Hin- und Hergeschichten nannte sich ein Buch, das Franz Hohler und Jürg Schubiger gemeinsam verfasst haben. Der eine schickte dem anderen eine Geschichte und der Empfänger liess sich durch diese zu einem eigenen Werk inspirieren. Weil die beiden sich keine weiteren Vorgaben machten, sind herrlich verrückte Texte entstanden. Diesen inspirierenden Prozess wollen Regula Haus, eine befreundete Autorin, und ich ausprobieren. Wer dann übrigens Lust bekommt, mehr von Regula Haus zu lesen, besorgt sich einfach ihr Buch "Das schwarze Sofa" (nicht wundern, damals trug sie noch den Doppelnamen Haus-Horlacher) oder schauen sich http://www.literaturport.de/Regula.Horlacher/ an.

Die Medikamente schienen anzuschlagen. Linus schlief - das erste Mal in dieser Nacht. Was nach einem simplen Schnupfen ausgesehen hatte, wurde zum gefühlten Drama. Der Notarzt sprach von einer allergischen Reaktion. "Das ist bei Kindern oft unberechenbar. Sie können ein vertrautes Obst essen, und es plötzlich nicht mehr vertragen. In diesem Fall waren Linus buchstäblich die Kirschen aus Nachbars Garten nicht bekommen. Marina hätte vor Erleichterung heulen mögen, je ruhiger ihr Sohn wurde. Linus hatte in ihren Armen geweint, gekämpft, nach Luft geschnappt. Wie oft in seinem Leben würde das Problem über einen allergischen Schock hinausgehen und sich nicht so schnell beheben lassen? Wie oft würde sie ihm nicht helfen können? Ihr graute vor diesen Momenten, fühlte sie sich doch für jeden seiner Schritte verantwortlich. Sie legte sich neben Linus, nahm seine kleine Hand in die ihre und bewachte seinen Schlaf.

Timos Schüleretui lag auf dem Tisch im Wohnzimmer. Carmela überlegte einen Augenblick, dann nahm sie es und eilte dem Jungen nach. Das Schuljahr hatte erst vor wenigen Tagen begonnen. Alles war noch ungewohnt. Das grosse Oberstufenschulhaus, die vielen neuen Lehrer und der Wechsel des Schulzimmers nach jedem Fach – Timo tat sich schwer mit Unvertrautem. Am ersten Schultag hatte er wieder Fieber gehabt und sich erbrochen vor Aufregung. Das war immer so, wenn er nicht genau wusste, was auf ihn zukam. Oder wenn er sich zu sehr freute: an Weihnachten, an Ostern, am Jugendfest. Carmela konnte sich einen Weihnachtsmorgen ohne Besuch beim Notfallarzt schon gar nicht mehr vorstellen. Im Grunde war es jedes Mal dasselbe: Timos Körpertemperatur stieg auf alarmierende vierzig Grad und er musste sich erbrechen, dann sank das Fieber im Lauf des Tages und am nächsten Morgen war es weg. Aber darauf verliess sie sich lieber nicht: Timo war anfällig für Scharlach, und das begann bei ihm exakt so – mit hohem Fieber und Erbrechen. Carmela wartete an der stark befahrenen Dorfstrasse auf eine Lücke im Verkehr und dachte an den letzten Weihnachtsnachmittag, den sie aus irgendeinem Karl-May-Band vorlesend an Timos Bett verbracht hatte, während die anderen bei den Grosseltern feierten. Sie erinnerte sich, dass es um den Kampf mit einem Bären gegangen war und sie sich gefragt hatte, wie man so etwas spannend finden konnte. Die detailgenaue Schilderung eines Bärenkampfs – Sie fand Timo mit einigen seiner neuen Schulkameraden vor dem Eingang der Turnhalle. Die Stunde hatte noch nicht angefangen. „Dein Etui!“, sagte sie. „Danke.“ Er strahlte sie einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder seinen Kameraden zu. Keiner der Jungen feixte. Timo wurde nie ausgelacht. Das erstaunte Carmela manchmal ein wenig. Aber vor allem erleichterte es sie. Und es erfüllte sie mit Stolz. Das natürlich auch. Sie entfernte sich rasch. Niemand schien sie zu beachten, und so sollte es auch sein. „Mach‘s gut“, flüsterte sie im Gehen.