Hin- und Hergeschichten nannte sich ein Buch, das Franz Hohler und Jürg Schubiger gemeinsam verfasst haben. Der eine schickte dem anderen eine Geschichte und der Empfänger liess sich durch diese zu einem eigenen Werk inspirieren. Weil die beiden sich keine weiteren Vorgaben machten, sind herrlich verrückte Texte entstanden. Diesen inspirierenden Prozess wollen Regula Haus, eine befreundete Autorin, und ich ausprobieren. Wer dann übrigens Lust bekommt, mehr von Regula Haus zu lesen, besorgt sich einfach ihr Buch "Das schwarze Sofa" (nicht wundern, damals trug sie noch den Doppelnamen Haus-Horlacher) oder schauen sich http://www.literaturport.de/Regula.Horlacher/ an.

Stolz öffnete sie die Schnallen links und rechts an ihrem Schulthek. Sie klappte die lachenden Marienkäfer um und griff hinein. Sie zog ihr Etui heraus, legte es sorgsam vor sich auf das Pult, verschloss den Thek und hängte ihn an den Hacken am Tischbein. Langsam öffnete sie den Reissverschluss des Etuis. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Sie wollte lernen. Buchstaben, Zahlen, Worte, warum die Sonne schien und die Schnecke Salat frass. Mit ihren wundervollen Filzstiften würde sie strahlende Welten des Wissens in ihre Hefte bannen. Das Ergebnis wäre mindestens ebenso beeindruckend wie die Seiten in den dicken Lexika, die ihre Mutter zu Rate zog, wenn ihr die Worte ausgingen. Da wurde Myrta von Sonja angestupst: "Da, daraus musst du einen nehmen", sagte sie und hielt Myrta die Schachtel Bleistifte hin. Myrta tat wie ihr geheissen, betrachtete das Schreibgerät aber mit einer gehörigen Portion Skepsis. "Was sollte sie vom grauen Ergebnis des Bleistifts halten? "Das wird euer bester Freund", hörte Myrta ihre Lehrerin Frau Cuellar sagen. "Mit ihm macht ihr alle Aufgaben in der Schule und Zuhause." "Was ist mit meinen Filzstiften?" Myrta hatte sich die Frage nicht verkneifen können. "Die benutzt du vorerst noch nicht", antwortete Frau Cuellar freundlich. Doch sie hatte ohne es zu wissen ihren Teil dazu beigetragen, dass Myrta und der Bleistift niemals Freunde wurden.

Rahel staunte. Sie konnte sich nicht erinnern, mit den Kindern je eine Kunstausstellung besucht zu haben. Aber genau darum schien es sich bei dem, was sich hier auf dem Hausplatz vor ihr ausbreitete, zu handeln. Eine ganze Menge von Zeichnungen lag da, sorgfältig angeordnet und mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davontrug. Dazwischen befanden sich in ziemlich regelmässigen Abständen die Holzstangen, die sie im Sommer zum Aufbinden der Bohnen brauchte. Vermutlich sollten sie die Wände markieren. Gedankenverloren betrachtete Rahel die Kunstwerke ihrer Kinder: Sonjas grossflächige, meist ungegenständliche, bunte Bilder, an denen sie manchmal tagelang arbeitete, bis sie das ganze Blatt vollständig mit farbigen Flecken gefüllt hatte, und Stefans Strichzeichnungen von Flugzeugen und Eisenbahnen. Es gab sogar kleine Zettel mit Angaben zu den einzelnen „Gemälden“ wie im Museum. Rahel musste lächeln: Die Kinder hatten versucht zu schreiben. Gekritzel und Kringel wechselten sich ab mit vereinzelten zwar lesbaren, aber natürlich beliebig aneinandergereihten Buchstaben – doch dann stutzte sie plötzlich: UBERSWEMUNG stand auf einem der Zettel. „Überschwemmung“ – so nannte Sonja seit je her ihre Farbbilder. Farb-Überschwemmung. Ob sie das selber geschrieben hatte? Oder Stefan? Rahel entdeckte noch weitere Wörter: LOKI. VERCHERSHUS. REDLI. Wohl doch eher Stefan, Sonja war erst fünf. Aber trotzdem – er ging auch noch nicht zur Schule.