Der Sonntag weckte Lena, denn sie hatte am Vorabend vergessen, die Rollläden herunterzulassen. Wohlig räkelte sie sich unter der Decke, liess den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren. Beflügelt von der eigenen Tatkraft sprang sie aus dem Bett. Sie duschte, zog Rock und Bluse aus dem Schrank, klingelte bei ihren Nachbarn an der Tür. Marco öffnete. «Hey Leute, ich hätte Lust, so richtig schön essen zu gehen. Seid ihr dabei?» «Jep», Marco brauchte nicht lange zu überlegen. Auch Martin willigte ein. «Ich bin heute sowieso zu müde zum Kochen, weil ich gestern die ganze Nacht gemalt habe.» «Er hat ein neues Projekt», raunte Marco Lena hinter scheinbar vorgehaltener Hand zu. «Worum geht es?», wandte sich Lena an Martin. «Ich könnte ein mehrstöckiges Bürogebäude übernehmen. Nicht nur malen heisst das, sondern auch Innengestaltung wie Raumaufteilung oder Möbel.» «Das klingt sehr spannend. Handelt es sich um ein bekanntes Gebäude?» «Um den Falken in Baden.» «Boahh, tolles Gebäude! Aber du schaust, als gäbe es ein Problem?» Lena war Martins sorgenvolles Gesicht nicht entgangen. «Ich finde keine Linie, keine umfassende Inspiration.» «Verstehe, wodurch inspirierst du dich normalerweise?» «Indem ich male.»

Inzwischen sassen die drei in der Pizzeria um die Ecke. Da es für Brunch bereits zu spät war, bestellten sie sich knoblauchgetränkte Köstlichkeiten. «Aber wenn ich dich richtig verstanden habe, geht es bei dem Projekt darum, den Gesamteindruck zu prägen.» Martin hörte aufmerksam zu. «Also würde ich mich vielleicht in Möbelhäusern umsehen. Oder ich würde mir Filme ansehen, deren Gesamtwirkung mir gefällt.» «Woran denkst du?» «In meinem Fall wäre das wahrscheinlich so was wie «Der Teufel trägt Prada» oder «Natürlich blond». Aber du musst dir halt einen aussuchen, der dich inspiriert.» «Das könnte funktionieren.» Martin lächelte, er schien bereits eine Idee zu haben. «Das werde ich probieren. Danke dir!» Lena lächelte zurück. «Immer wieder gerne.» Mittlerweile beim Kaffee angekommen, durchzuckte es Martin. «Sag mal, wie war eigentlich das Casting?» «Das Casting war gut. Ich habe es ungefähr so weit geschafft, wie ich angenommen habe. Das hat gereicht, um jemanden kennenzulernen, mit dem ich die Geschichte machen kann, und der Rohentwurf steht.» «Wow, ich bin beeindruckt, da hat sich ja jemand richtig ins Zeug gelegt.» «Das Ziel ist die Geschichte bis Mittwochabend weggeschickt zu haben.» «An wen willst du sie schicken?» «Tages-Anzeiger, Aargauer Zeitung, Schweizer Familie, Annabelle. An jeden, der mir einfällt, und dann mal sehen, wer sich als Erstes meldet.» «Wir drücken dir auf jeden Fall die Daumen.»

Mittlerweile hatten die drei ihren Kaffee genossen und machten sich auf den Heimweg. Nach einer herzlichen Umarmung gingen sie alle wieder ihres Weges. Doch Lenas Tatendrang war noch nicht verflogen. Sie betrat ihre Wohnung und sah sich um. Ende der Woche kämen die Möbel und bis dahin? Lena entschied, weiter zu räumen. Nach zwei Stunden waren es drei Schachteln weniger und Lena hatte zwei Mülltüten weggetragen. Doch jetzt hielt sie plötzlich einen Liebesbrief von Robert in den Händen. Lena schluckte. Wegwerfen oder behalten? Hatte der Brief seine Bedeutung wegen der aktuellen Ereignisse verloren? Würde die Erinnerung immer weh tun? Oder gab es so etwas wie Versöhnung mit der Vergangenheit tatsächlich? Lena legte den Brief auf den Papierstapel einer geöffneten, aber noch vollen Schachtel. Statt weiter zu räumen griff sie zum Computer und erschrak, als sie die Mailbox geöffnet hatte:

 

Liebe Lena,
als Reaktion auf die erste Mail kam der Brief deines Anwalts. Wegen eines Fehltritts greifst du zu solchen Mitteln? Das werde ich mir nicht bieten lassen. Du bist meine Frau, über den Fortbestand oder das Ende unserer Ehe bestimme ich. Das kannst du deinem Anwalt ausrichten und sollte er mir mit rechtlichen Massnahmen drohen, werde ich mich zur Wehr setzen. Soweit ich informiert bin, ist neben dem Grab deiner Mutter noch Platz. RIP Robert.

 

Lenas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie stand auf und liess die Fensterläden herunter und verschloss die Haustür. War es möglich, dass er hier war in der Schweiz? Beobachtete er sie aus einem Auto heraus von der gegenüberliegenden Strassenseite? «Ruhig, ganz ruhig», ermahnte sie sich. Das ist doch genau das, was er will – dich in Panik versetzen. Also, was kann ich jetzt tun? Ich muss mit meinem Anwalt reden, der wird wissen, welche rechtlichen Schritte Sinn machen. Lena sah auf die Uhr, halb sieben, heute wurde daraus also nichts mehr. Sie musste etwas tun, um sich zu beruhigen. Weiterräumen – was solchen Sisyphuscharakter hat, nur beruhigen. Sie schaltete den Computer aus und wandte sich wieder den Kisten zu. Sie griff nach dem Liebesbrief oben auf der offenen Schachtel und ballte die Faust. «Mistkerl! Du kriegst mich nicht klein.» Sie liess die unförmige Papierkugel auf den Grund einer neuen Mülltüte fallen. Aber selbst nachdem sie all die vergilbten Erinnerungsstücke vernichtet hatte, war die Beklommenheit auf der Brust nicht gewichen. Wer konnte ihr im Ernstfall zur Seite stehen, wenn Robert wirklich auftauchte? Lena dachte an Marco und Martin, natürlich würden die beiden sie begleiten, wenn sie sich fürchtete. Aber wollte sie das? Konnte sie sich vorstellen zu sagen: Hey, mein Ex, mit dem ich zehn Jahre zusammen war, bedroht mich jetzt.» Lena schluckte. Was wirft das für ein Licht auf mich? Ich bin zehn Jahre mit einem Mann zusammen, der mich und meine Anwesenheit als sein Recht betrachtet. Dass ich nie gemerkt habe, wie er wirklich ist? Hätte ich wissen können, dass es so endet? Bei diesen Worten fiel ihr Luis ein. Er war der Erste, mit dem sie über das Scheitern ihrer Ehe gesprochen hatte. Er hatte sie getröstet, hatte ihre Wut über Roberts Verhalten unterstützt. Aber was sollte sie ihm sagen? Lena griff zum Handy: «Wie war das, als ihr euch scheiden lassen wolltet, deine Frau und du?» Lena schrieb, ohne lange nachzudenken, und schickte den Satz sofort ab. Sie atmete tief durch und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sorgfältig beseitigte sie die Spuren ihrer Räumaktion, legte die Kleider für den nächsten Tag bereit. Sie stellte den Regenschirm neben das Kopfende der Couch. Ein Griff und sie hätte etwas zum Zuschlagen. Immer wieder schielte sie aufs Handy. Doch da war keine Antwort auf ihre Frage. Schliesslich stellte sie den Ton aus und versuchte zu schlafen. Doch es dauerte mehr als eine Weile, bis sie Ruhe fand.