Ein paar Stunden später erwachte Lena wesentlich entspannter. Sie räkelte sich und überlegte, was sie heute tun wollte. «Die Sonntage sind am schlimmsten. Wenn du nichts im Voraus planst, kann es gut sein, dass du nichts anzufangen weisst», hatte Elisabeth, eine Bekannte, Lena einst ihre Single-Gefühle anvertraut. Lena schüttelte sich: Mir ist nie langweilig gewesen, dachte sie. «Ich fange jetzt nicht damit an. Ich fahre ins Tessin.» Übers Handy suchte sie die Zugverbindung raus, machte sich gut gelaunt fertig, packte Wasser, einen Apfel, Block und Stift in den Rucksack, bis es kurz vor 10 Uhr Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Sie liebte den Zürcher Hauptbahnhof. Er schien Lena seit ihrer Kindheit das Tor zur grossen, weiten Welt zu sein. Heute spürte sie, das hatte sich trotz dem Leben in Karlsruhe nicht geändert. Und als sie in den Zug nach Lugano stieg, war ihr Glück perfekt.

Sie schwelgte in Erinnerungen. Als Teenager hatte sie sich unsterblich in einen älteren Mitschüler verliebt. Bereits eine Ecke männlicher als seine Kollegen, hatte er wunderschöne, grosse Hände. Ohne wie Pranken auszusehen, standen sie für Kraft. Bei jedem Wetter trug er seine Jeansjacke mit Aufnähern von Heavy-Metal-Bands wie AC/DC oder Metallica. Er roch nach Abenteuer. Doch weder Blondine noch langbeinig, war Lena für die coolen Typen von damals unsichtbar. Also fing sie selbst an, Heavy Metall zu hören, eroberte sich die Musik und damit ihren eigenen Platz in der Motorrad-Clique. Auf einer Tour hatten sie in Lugano Halt gemacht und drei Tage in der Jugendherberge übernachtet. Lena erinnerte sich an eine herrliche Promenade, helles, mediterranes Flair mit vielen Cafés. Dazwischen das Grand Hotel am See. «Next Stop Lugano». Lena hatte Herzklopfen, ob Lugano noch so aussehen würde wie in ihrer Erinnerung?

Lena stieg aus dem Zug und atmete tief ein: Es war besser. Die Sonne schien freundlich, ein laues Lüftchen brachte mehr als einen Hauch von Frühling. Lena folgte einem Passanten, der aussah, als würde er sich auskennen. Und ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen, er führte sie direkt zum See. Strahlend weiss überragte das Grand Hotel die Gebäude um sich herum, gesäumt von Rhododendronbüschen, die im Sommer mit den Kleidern der edlen Damen um die Wette leuchteten. Lena sah an sich herunter: Jeans, Crinklebluse und Freizeittreter. Na hoffentlich haben die keine Kleiderordnung, dachte sie bei sich und musste schmunzeln. Ich werde einfach so tun, als ob nichts wäre. Und so schritt sie ehrfurchtsvoll die breite, weisse Treppe hinauf. In der Hotellobby folgte sie ohne zu Fragen den Hinweisen ins Restaurant. «Ich hätte gerne einen Tisch.» «Gerne, für eine Person und in der Nähe des Laufstegs?» «Laufsteg?» «Ja, heute um halb zwei findet bei uns eine Modenschau statt.» «Gut, dann hätte ich gerne einen Tisch beim Laufsteg.» Lena hatte sich ein «Super» gerade noch verkneifen können. Sie folgte dem Kellner auf die Terrasse und freute sich. Ihr Tisch war perfekt. Seeblick und Laufsteg, sie genoss die Atmosphäre einen Moment, bevor sie einen Blick auf die Speisekarte warf.

Fangfrischer Hummer auf einem Rucola-Bett, dazu junge Kartoffeln auf Zitronenschaum. Coq au vin, Truthahn-Piccata, Spaghetti mit Trüffel – Lena lächelte beim Lesen. Schon die Namen der Gerichte klangen nach Urlaub. Sie entschied sich für Penne mit Lachs, eine kleine Portion, das wirkt irgendwie vornehmer, dachte sie. Insgeheim freute sie sich aber schon auf eine ganz und gar nicht vornehme Portion Tiramisu. Lena träumte vor sich hin. Wie wäre es, als Autorin auf Lesereise zu gehen und in solchen Hotels zu übernachten? Freundlich lächelnd sah sie dem Kellner beim Servieren zu. Lena liess sich viel Zeit beim Essen. Sie belud sorgfältig die Gabel, kaute langsam und versuchte, die verwendeten Gewürze und Zutaten herauszuschmecken. Es war köstlich. Für einen Moment kehrte Ruhe ein, da wackelte plötzlich ihr Tisch. «Charlie! Charlie! Ich habe keine Zeit mehr, um Verstecken zu spielen.» Lena stand auf, setzte sich neben ihren Stuhl auf den Fussboden und hob an einer Seite das Tischtuch. Ein etwa sechsjähriger Junge sah sie erst erschrocken an, grinste aber schon bald verschmitzt. «Hallo Charlie, ich bin Lena. Sag mal, gefällts dir unter dem Tisch?» Er zuckte mit den Schultern. «Geht so. Aber ich will nicht hinter die Bühne.» «Okay», antwortete Lena, die noch nicht so genau wusste, was das bedeutete. «Aber was hältst du davon, wenn wir es erst einmal mit den Stühlen an meinem Esstisch probieren?» «Okay», der Kleine klang etwas resigniert, doch kroch er ohne Gegenwehr unter dem Tisch hervor. Kaum sassen Lena und Charlie manierlich am Tisch, waren sie auch schon entdeckt. Eine grosse Frau mit wehenden dunkelbrauen Haaren kam durch die Lobby auf die Terrasse gestürmt. «Charlie, ich muss in zehn Minuten beim Umziehen sein, wir müssen los.» «Aber ich will nicht hinter die Bühne.» «Und ich will dich nicht in einem grossen Hotel alleine auf der Terrasse lassen.» «Aber er ist doch nicht allein», rutschte es Lena heraus. Die Frau sah auf. «Entschuldigung», Lena stand auf und reichte der Frau die Hand. «Mein Name ist Lena Kronenberg, ich bin hier Gast und falls das für ihren Sohn in Ordnung wäre, kann er gern bei mir am Tisch sitzen bleiben, bis die Modenschau vorbei ist. Denn ich gehe mal davon aus, dass sie zu den Models gehören.» «Stimmt. Aber sind sie sicher? Ich meine, was Charlie betrifft. Er ist ein ganz schöner Wirbelwind. Sorry, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Isabelle Matthis.» Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. «Also, wie sieht es aus Charlie? Bleibst du bei Frau Kronenberg?» «Lena bitte.» Isabelle Matthis hob fragend die Augenbrauen beim Blick auf ihren Sohn. Charlie wechselte zwischen der Betrachtung seiner Mutter und der Unbekannten, dann nickte er. «Okay, das Ganze dauert etwa eine Stunde. Haben Sie, ich meine hast du wirklich so viel Zeit?» «Kein Problem, ich denke, Charlie und ich kriegen das schon hin.» Der Junge nickte mittlerweile. Mit den Worten «Bis später und bleib brav» verschwand Isabelle Matthis hinter der Bühne. «Charlie», wandte sich Lena an ihren Tischgenossen, «was hältst du von einem Glas Sirup?» «Erdbeer oder Zitrone?» «Was wäre dir denn lieber?» «Zitrone», kam es wie aus der Pistole geschossen. «Ich denke, dann reden wir doch mal mit dem Kellner.» Sie brauchte kaum die Hand zu heben, war er bereits zur Stelle. «Ich hätte gerne zum Dessert eine Portion Tiramisu mit zwei Löffeln und der junge Mann», sie gab Charlie einen ermunternden Schubs, «bitte, deine Bestellung.» Etwas unsicher sah dieser den Hotelbediensteten an: «Haben Sie Zitronensirup?» «Selbstverständlich. Ein Glas für den Herrn?» Charlie nickte. Der Kellner entfernte sich.

Die Scheinwerfer um den Laufsteg gingen an. Aus den Lautsprechern erklang «What are you waiting for.» Isabelle Matthis betrat die Bühne – oder besser, liess sie erbeben. Knallrote Seide in mehreren Lagen umschmeichelte ihre Beine, ihr violettes Oberteil glich einem Sari und ihre langen Haare flogen nur so, wenn sie posierte. Ihre Kolleginnen und Kollegen folgten jeweils in stil- oder farbähnlichen Kreationen, aber sie war eindeutig der Star der Show. Ein kleiner Seitenblick auf Charlie offenbarte, dass er das offensichtlich ganz genauso sah. Stolz verfolgte er die Schritte seiner Mutter, die nun ein Jeanskleid voll bestickter Blumen trug. Lena brauchte sich keinerlei Sorgen zu machen, ihr Tischnachbar würde sich langweilen. Erst recht nicht, als der Kellner das Tiramisu gebracht hatte und er seinen Teil der italienischen Köstlichkeit im Nu verputzte. Bei Lena dauerte es etwas länger, weil sie Isabelles Auftritte ganz genau verfolgte. Die energiegeladene Ausstrahlung faszinierte sie. Und als das Model zum Höhepunkt der Show ein Abendkleid trug, das in unterschiedlichen Gelbtönen mit der Sonne um die Wette strahlte, applaudierten Lena und Charlie wie wild.

Die Scheinwerfer gingen aus. Die Terrasse leerte sich. Charlie zupfte Lena am Ärmel: «Darf ich auf den Spielplatz hinter dem Haus?» Lena schüttelte den Kopf. «Sorry, ich denke, wir beide sollten hier auf deine Mutter warten. Sonst denkt sie am Ende noch, ich hätte dich geklaut, und haut mich mit einem Stöckelschuh.» Lena imitierte einen solchen Schlag und Charlie fing an zu kichern. «Hey, was hältst du von Fliegerbasteln? Papier und Stift hätte ich dabei.» Der Junge war nicht komplett begeistert, machte sich aber an die Arbeit. Und schon bevor das erste Kunstwerk fertig war, stand Isabelle Matthis am Tisch. Sie fuhr ihrem Sohn durch die Haare: «Was sagt mein Lieblingskritiker zur Show?» «War ganz okay», Charlie hob den Kopf. «Aber einmal bist du umgeknickt. Du musst aufpassen, sonst fällst du das nächste Mal runter.» «Da hast du vollkommen recht, ich gebe mir Mühe.» Isabelle Matthis wandte sich an Lena. «War er brav?» «Höchst wohlerzogen. Willst du dich nicht einen Moment setzen? Ich habe noch etwa eine Stunde Zeit, bis mein Zug einfährt.» «Ganz so viel Zeit habe ich nicht, aber ein Kaffee liegt schon drin.» Sie winkte dem Kellner und setzte sich. «Ich war unglaublich beeindruckt von der Show», schwärmte Lena. «Was hat dich denn besonders beeindruckt?» «Schwer zu erklären. Du bist so eine Erscheinung. Wenn du den Laufsteg betreten hast, hätten die anderen Modells auch nach Hause gehen können. Es war, als gehörten all diese Kleider ganz normal zu dir, egal wie knallig oder ausgefallen. Und dein Gang.» Isabelle hatte Lena still zugehört. «Was gefällt dir an meinem Gang?» «Er ist kraftvoll. Du hast eine starke Präsenz, mit der du aber nicht arrogant, sondern sehr spielerisch umgehst.» Isabelle lächelte: «Bitte entschuldige diese sehr analytisch wirkenden Fragen, ich habe neben meiner eigenen Modelei ein kleines Studio. Dort unterrichte ich Frauen, die Model werden wollen. Aber auch solche, die in ihrem bisherigen Leben einfach keine Möglichkeit hatten, sich kleidertechnisch auszuprobieren. Frauen, die wissen wollen, was Kleidung und Make-up bewirken können.» «Ich mag Make-up nicht so», meinte Lena. «Das ist eine glatte Lüge. Du bist der typische Fall von «Ich weiss nicht wie und darum lass ichs lieber ganz.» «Und woran erkennst du das?» «Es ist die Art und Weise, wie du mich beobachtest. Ich wette, wenn du mich jetzt beschreiben müsstest, würde nicht mal das zweite Paar Ohrstecker fehlen.» Lena wurde rot und wand sich. Charlie unterbrach das Gespräch. «Mama, der Flieger ist fertig, kann ich jetzt auf den Spielplatz?» Isabelle Matthis sah auf die Uhr. «Nein mein Schatz, tut mir leid, ich hab mich sogar selbst verquatscht. Wir müssen noch die Kleider für morgen abholen und dann geht es ab nach Hause, schliesslich ist morgen Kindergarten.» Charlie zog eine Schnute. «Okay», brummelte er. Isabelle kramte in ihrer Handtasche und streckte Lena ihre Visitenkarte hin. «Ich hab mich sehr gut unterhalten Lena, und wenn du mal Lust hast, dich auf Entdeckungsreise nach dir selbst zu begeben, ruf mich an. Ich würde mich freuen, dir dabei etwas zur Hand zu gehen. Schliesslich schulde ich dir einen Gefallen fürs Hüten», meinte sie mit Seitenblick auf ihren Sohn. «Ich würde mich freuen, dich wieder zu treffen», sagte Lena. Die beiden Frauen verabschiedeten sich und Charlie liess sich sogar zu einem «War cool bei dir» hinreissen. Auch Lena machte sich nun auf den Heimweg und erinnerte sich an einen ihrer journalistischen Ausflüge in die Welt des Lifestyles.

 

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Mode: Nach dem Busen nun der Po als Projektionsfläche persönlicher Statements

Die Zicke hat sich rar gemacht. Nein, gemeint ist natürlich nicht die Art Frau, die zwar über einen Haufen Allüren verfügt, aber ansonsten keinerlei Fähigkeiten vorzuweisen hat. Die Rede ist vielmehr von dem T-Shirt-Aufdruck, der noch im vergangenen Sommer zusammen mit der «Prinzessin», dem «Engel» und der «Schlampe» aufgetaucht ist, um fortan die Strassen zu bevölkern. Auf den Oberteilen, meist in Rosa oder Babyblau, prangten die bunten Lettern wohlplatziert auf dem Busen von Girlies und besonders hippen Frauen. Und 2003? Bedruckte T-Shirts gibt es zwar nach wie vor, doch Bilderdrucke und Universitätslogos haben den knappen Selbstbeschreibungen den Rang abgelaufen.

Wer jetzt fürchtet, das männliche Geschlecht müsse verzweifeln, weil ihm die Einschätzung des weiblichen Gegenübers wieder selbst überlassen bleibt, täuscht sich. Denn der neue Trend sind gedruckte Statements auf den vier Buchstaben. Spätestens wenn die Angebetete den Mann nach einer Abfuhr stehen lässt, wird dem Gesellschaftsuchenden ein Licht aufgehen. Denn was kann man von einem bösen Mädchen (bad girl) anderes erwarten. Das «sexy girl» auf der Rückseite eines knappen Minis dürfte von der Herrenwelt hingegen eher als Signal zum Dauerflirten verstanden werden.

Eines gilt es beim Modetrend des Jahres zu bedenken: Wer seinen Hintern in den Mittelpunkt rückt, muss ihn wirklich mögen. Nur gibt es bekanntlich nicht viele Frauen, die das ohne Wenn und Aber tun. Es bleibt abzuwarten, wer sich in diesem Rennen durchsetzt: das Modediktat oder der Figurkomplex