«Diese Garderobe ist einfach der Wahnsinn!» Mit strahlenden Augen stand Lena vor Isabelles Schrank, der eine ganze Wand in dem sonst eher kleinen Studio einnahm. Für jedes Kleidungsstück gab es ein eigenes Abteil: Hosen, Röcke, Jupes, Blusen, Accessoires – in Seide, Samt, Leinen, Crincle, Jeansstoff – mit Spitzen, Bordüren, transparenten Einschlüssen – in allen Farben. Isabelle wartete geduldig, bis sich Lenas Staunen etwas gelegt hatte. «Wie um Himmels willen entscheidest du morgens, was du anziehst?», wollte Lena wissen. «Meistens habe ich Lust auf ein bestimmtes Teil wie beispielsweise meine lila Lieblingsbluse. Damit fange ich also an. Dann frage ich mich, was ich an diesem Tag vorhabe. Habe ich Vorstellungsgespräche oder laufe ich für verschiedene Präsentationen und bin viel unterwegs – das bestimmt, wie praktisch ein Outfit sein muss, also ob ich den blauen Jeans-Jupe oder eine schwarze Baumwollhose anziehe. Ist das bestimmt, suche ich die Schuhe aus und so weiter, bis alles beisammen ist.» «Das klingt ja nicht schlecht, aber das würde ja bedeuten, dass ich den Inhalt meines Kleiderschranks planen müsste?» «Das rate ich allen Frauen, die zu mir kommen», antwortete Isabelle schlicht. «Nicht nur Models?» «Nein, nicht nur Models.» Isabelle lachte schallend. «Wenn du wüsstest, wie oft ich diesen skeptischen Blick bei den Frauen, die hier waren, schon gesehen habe. Aber beruflicher Erfolg hat auch mit der Erscheinung der eigenen Person zu tun. Im ersten Jahr bedeutet es etwas Arbeit, bis man eine Grundgarderobe konzipiert hat. Aber darauf lässt sich dann ganz einfach aufbauen, und das spart Zeit.» Sie wurde energisch. «So, genug geredet. Ich möchte, dass du dir jetzt ein Outfit zusammenstellst für eine richtig stylische Party. Etwas, von dem du dir rational nicht vorstellen kannst, es je zu tragen.» «Aber wir haben doch gar nicht dieselbe Grösse», wandte Lena ein. «Woher willst du das wissen? Los gehts, ich setze mich so lange an meinen Laptop. In einer Viertelstunde ist Präsentation.»

Lena war zwar immer noch skeptisch, aber die Faszination des Schrankes hatte sie längst erfasst. Sorgfältig studierte sie Farben, Muster und Stoffe. Bei den Röcken angelangt, sprang ihr ein leuchtendes Violett ins Auge. Sie nahm das Kleid heraus. Der schmale Schnitt, der kleine Stehkragen und die silbernen Stickereien erinnerten Lena an die wenigen asiatischen Filme, die sie gesehen hatte. Sie überlegte, ob man darunter tatsächlich nur Strümpfe trug, entschied sich dann aber für ein Paar schwarze Baumwollhosen. Auf Schuhe und Schmuck verzichtete sie erst einmal. «Du kannst herschauen», wandte sie sich an Isabelle. «Interessante Wahl», Isabelle betrachtete Lena so lange von Kopf bis Fuss, bis diese ungeduldig wurde. «Jetzt sag doch was.» «Immer mit der Ruhe», Isabelle schwieg einen weiteren Moment. «Also ich finde du hast einen guten Blick für das Besondere. Damit kannst du arbeiten.» Lena ging es immer noch zu langsam. «Ja, ja, schöne Kleider anziehen kann ich, wenn ich welche habe. Aber wie geht das mit all dem anderen. Schuhe, Haare, Make-up und Schmuck?» «Na, welche Schuhe würdest du denn zu dem Kleid kombinieren?» «Am ehesten Stöckelschuhe.» «Welche Farbe?» «Am ehesten Schwarz – ausser …» «Ja?» «Ausser ich hätte welche im gleichen Violett-Ton wie das Kleid. Ich glaube Silber wäre zu kitschig.» «Klingt doch gut. Jetzt fehlt noch der Schmuck.» «Ich denke auf jeden Fall silbern – aber sonst fällt mir nicht wirklich was dazu ein.» Isabelle zog eine Schatulle vom Boden des ersten Schrankabteils und reichte diese Lena. Darin befanden sich silberne Ohrringe in Form von Blumenketten. Lena seufzte vor Entzücken.

Aber Isabelle war noch nicht zufrieden. «Wir werden jetzt noch etwas üben. Das heisst, du ziehst dich jetzt fürs Büro an, diesmal bitte inklusive Schmuck.» Sie setzte sich wieder an ihren Laptop, doch es blieb ihr nicht mal die Zeit, eine Mail zu beantworten. Lena hatte die schwarze Hose gleich anbehalten, ein schwarzes Long-Shirt mit V-Ausschnitt dazu kombiniert. Als Schmuck trug sie kleine, silberne Creolen. «So, und damit sind wir wohl bei deinem echten Kleiderproblem angelangt», lautete Isabelles Kommentar. «Was genau meinst du damit?», fragte Lena in trotzigem Ton. «Das Outfit ist nett und funktioniert. Aber es fehlt der Pep, es zeigt nichts von dir.» «Und was genau soll ich denn von mir zeigen?» «Sag mir spontan, welche Art von Schmuck du magst.» «Glitzer in allen Farben.» Isabelle griff in die Schmuckschatulle und förderte eine silberne Kette zutage, an der eine violett schillernde Blüte hing, dazu violette Stecker. Lena verstand. «Okay, noch ein Versuch.» «Selbstverständlich.» Isabelle setzte sich an den Computer. «Jetzt kucken.» Lena leuchtete im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte einen bordeauxfarbenen Hosenjupe mit einer schwarzen Bluse kombiniert. Darüber trug sie eine Weste im selben Rotton mit schwarzsilbernen Knöpfen und Ohrringe im Stil der Knöpfe. «Zeig mir die Schuhe», forderte Isabelle. Lena hob die Hose leicht an, schmale, schwarze, halbhohe Pumps kamen zum Vorschein. «Wunderbar – und genau in dem Outfit gehen wir jetzt essen. Magst du indisch?» Lena nickte. «Gut, dann weiss ich, wohin wir gehen.» Lena folgte Isabelle ohne viele Worte, denn sie musste sich darauf konzentrieren, in den ungewohnten Schuhen ohne Fehltritte vorwärtszukommen. Sie war froh, als sie feststellte, dass das Lokal nur zwei Querstrassen weiter lag. Trotz des neuen Outfits fühlte Lena sich alles andere als glamourös. Sie beneidete Isabelle um deren Souveränität. Während Lena eine Treppe hinunterstolperte, wirkte ihr Gang leicht und sicher. Sie zog die Blicke der Männer reihenweise auf sich, doch es schien sie weder zu kümmern noch zu stören.

Lena versuchte dieses leichte Unbehagen zu ignorieren. Die beiden Frauen genossen ihr Curry, unterhielten sich gut. Schon nach kurzer Zeit stellten sie fest, dass sie dieselben Bücher gelesen hatten und dieselben Filme mochten. Bei der Dessertbestellung richtete der Kellner seinen Blick ausschliesslich auf Isabelle. Lena schien er gar nicht wahrzunehmen. «Wie machst du das?», fragte sie unvermittelt. «Wie mache ich was?» Lena stockte einen Moment. «Ich kann es schlecht beschreiben. Deine Aussenwirkung – neben dir bin ich irgendwie unsichtbar.» «Wie kommst du darauf? Und vor allem, warum vergleichst du dich mit mir?» «Ist das nicht normal?» «Ich hab dich nicht gefragt, ob das normal ist. Ich möchte wissen, warum du das tust?» Lena schwieg einen Augenblick irritiert. «Ich mach das immer so. Isabelle musste ob Lenas betretenem Gesicht lachen. «Ich mach dir doch keinen Vorwurf deswegen. Und du bist mit dieser Gewohnheit keineswegs alleine. Ich denke nur, dass es nicht hilft.» «Ich kann dir nicht wirklich folgen.» «Okay, ein Beispiel. Du gehst nächste Woche zu diesem Vorstellungsgespräch. Jetzt hat der Typ eine Sekretärin, die aussieht wie vom Laufsteg weg ausgesucht. Jetzt kannst du dich vergleichen – vielleicht mit dem Ergebnis, dass du denkst: Ich gehöre sowieso nicht ins Beuteschema von dem Kerl. Oder du kannst dich auf dich konzentrieren und zeigen, was du willst.» «Das klingt toll, aber ob die Theorie den Realitätstest überstehen würde?» «Das kannst du nur herausfinden, wenn du dich dem Experiment stellst.» Isabelle schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr. «Als meine Beziehung mit Charlies Vater auseinanderging, hatte ich das Gefühl für mich selbst verloren. Das wäre niemandem gross aufgefallen, die Puppe, also mich anziehen und spielen, kann ich gut. Ich verglich mich mit anderen Models – es gab immer jemanden, der hübscher war. Schlanker, bessere Proportionen, schönere Haut. Ich hatte die Schnauze voll und beschloss, nur noch zu machen, was sich für mich gut anfühlt. Sei es, was die Äusserlichkeiten betrifft oder welche Jobs ich machen will. Das Coaching ist ein Teil dieser Entwicklungen. Und seither geht es stetig aufwärts.» Die beiden Frauen schwiegen einen Moment. «Wäre schön, wenn mir das auch gelingen würde», sagte Lena. «Lass den Konjunktiv weg und dann machen wir uns auf den Heimweg», war Isabelles schlichte Antwort.