Tarja hatte inzwischen ihre Uniformjacke angezogen und machte sich auf den Weg in die Parfümerie. Eigentlich liebte sie Kosmetik. Parfüms, Lippenstifte, Mascara, Lidschatten. Doch hier die Auslagen zu reinigen war ein Alptraum. Vor allem seit auch Kosmetika mit einem Ablaufdatum versehen worden war. Es hiess Regal ausräumen, in seine Einzelteile zerlegen, diese reinigen und wieder zusammensetzen. Anschliessend sortierte man die Produkte pro Fach dem Ablaufdatum entsprechend, staubte jede einzelne Schachten ab und räumte sie wieder ein. Selbstverständlich so, dass nicht waagrechte Schriftzüge von links nach rechts zu lesen waren. Bei jeder Packung – auch der letzten im Fach – versteht sich von selbst. Pro Regal war dafür eigentlich nur eine Stunde vorgesehen, was meist kaum zu schaffen war. Doch Annalena Kästner, die Granddame der Parfümerie zeigte sich unerbittlich. Die gut 50jährige trug unter der Uniform exquisite Deux-Pieces, perfekt sitzende Strümpfe und trotz der acht Stunden Stehens täglich hochhackige Schuhe. Wenn sie die Regale kontrollierte trug sie die klassischen weissen Baumwollhandschuhe, welche jedes Staubkorn sichtbar machten. Tarja wurde bei jedem Regal wieder nervös. Und sie hasste den Satz: «Tssstsstss beim nächsten Regal geben wir uns aber ein bisschen mehr Mühe.»

Sie sah genau, wie die Mitarbeiterinnen der Kästner hinter deren Rücken hämisch grinsten. Für sie war es stets eine Entlastung wenn die Studentinnen zum Putzen der Parfümerie kamen. Dann war die Chefin weniger mit ihnen beschäftigt. Da liess sich locker mal die Mascara für 30 Franken oder das kleine Flakon des Lieblingsparfums einpacken um etwas Geld zu sparen. Die meisten von ihnen sahen passend zur Abteilung gut aus und hatten durchaus Stil wie Tarja ihnen bei sich neidlos zugestehen konnte. Doch die Gespräche über die gestrige Folge von «Finde den Lover fürs Leben» waren ihr ebenso zuwider wie die Waschtipps für die seidene Unterwäsche. Dennoch konnte Tarja nicht leugnen, dass das zuhören hin und wieder Unterhaltungswert hatte. Es war wie Feldstudien der menschlichen Dummheit oder Bosheit? So leicht liess sich das selten beantworten. Heute hiessen die Probandinnen Sonja und Beljadra. Sonja schien seit kurzem vergeben zu sein, Beljadra hatte sich gerade von ihrem Liebsten getrennt. «Ich kann Dich nur warnen. Nicht zu viel Spielraum lassen. Wenn Du einmal anfängst, nach der Arbeit für ihn zu kochen um ihn anschliessend im Minijumper zu verführen, wird er das jeden Tag erwarten. Meiner hat sich zuletzt sogar darüber beschwert, dass ich mir auch wieder mal spannendere Kleider zulegen könnte. Das Spitzentop mit silbernen Blumen hätte er jetzt langsam über.» «Ich kann mir nicht vorstellen, dass Marcello so etwas tut. Der Arme ist ja noch ganz traumatisiert von seiner letzten Beziehung.» «Traumatisiert?» Tarja hatte sich die Frage nicht verkneifen können. Sonja nickte ganz ernsthaft und klimperte mit den angeklebten Wimpern. «Ja, die Tussi hat ihn betrogen und das mit einem seiner besten Kumpels. Sie hat versehentlich ein Whatsapp mit einem Nacktfoto von sich und der Liebesnachricht an den anderen an Marcellos Nummer geschickt.» Versehentlich, dachte Tarja bei sich. «Was kann man denn von so einer halten?» fragte Sonja an Tarja gewandt. Sie schwieg und schwieg und schwieg. Aber heute schien Sonja nicht locker zu lassen. «Da fällt mir echt nichts dazu ein, zu so einer», beeilte sich Tarja zu sagen, damit Sonja wieder von ihr liess. Sonja nickte zufrieden, seufzte tief und erhob sich. «Ich muss wieder, mich um die Schönheit der Frauen kümmern.» Tarja und Beljadra nickten. Als die Blondine den Raum verlassen hatte, lachte Beljadra. Es klang als hätte sie eben Marcello im Bett mit einer anderen erwischt. «Wenn die wüsste, ihr Herzbube hat schon so ziemlich mit jedem Rehlein aus der Lebensmittelabteilung geliebäugelt oder mehr.» Nun erhob sich auch Beljadra. Tarja brauchte noch einen Moment um sich zu sammeln. So genau wollte ich es eigentlich nicht wissen, dachte sie. Und damit Analena Kästner sie nicht noch genauer im Auge behielt als sie es ohnehin schon tat, machte sie sich schleunigst auf zum Schaummake-up für die reife Haut.