Lena war kaum durch die Eingangstür, da spürte sie es schon. Die Üppigkeit an Ideen. Schon der kurze Weg von der Tür zur Treppe in den ersten Stock war von unterschiedlichen Regalen gesäumt, auf denen Pflanzen, Lampen, Vasen und Bilderrahmen inszeniert waren. Dann im oberen Stock zuerst die Kinderzimmer. Waschkorbähnliche Behälter vermittelten Aufräumen als leichtes Spiel. Aus dem leuchtend rot bezogenen Stockbett, natürlich mit Rutsche, lugten ein Panda und ein Äffchen hervor. Stühle, Tische und Hocker in Kindergrösse und verschiedensten Farben. Lena genoss die fröhliche Ausstrahlung der Räume, marschierte aber zügig weiter in Richtung der Schlafzimmereinrichtungen. Dort staunte sie wider Erwarten. Ihr Eindruck aus dem Internet wurde in der Realität noch weit übertroffen: von 80 Zentimeter Breite bis 2 Meter, mit Schubladen, Beistelltischchen oder stapelbar – die Welt hätte nur aus Betten bestehen können. Sie war froh, dass ihr Raum und Budget Grenzen setzten. Sie wählte eine Matratze mit Taschenfederkern. Sie belohnte sich für die eigene Vernunft mit weissblau geblümter Bettwäsche und indigofarbener Tagesdecke. Beim Spaziergang durch die weiteren Rauminspirationen behielt sie ihren Geldbeutel in der Tasche. Aber die Korbstühle, die rote Récamière, das beige Sofa, die gläserne Karaffe und die Kerzenständer aus Keramik setzte sie begeistert auf ihre Wunschliste. Noch etwas verträumt bezahlte sie ihren Einkauf und sah auf die Uhr. «Mist, schon so spät», fluchte sie leise. «Marina wartet sicher schon.»

Lena behielt recht. «Sag mal, wo warst du denn so lange?», begrüsste Marina sie leicht vorwurfsvoll. «Wenn ich gewusst hätte, dass du dich verspätest, hätte ich was zu lernen mitgenommen.» Mit Blick auf die unausgepackten Kisten: «Deine Bibliothek gibt ja gerade noch nicht wirklich etwas her.» Sie hatte sich einen Tee gemacht, schenkte nun ihrer Schwester ebenfalls eine Tasse ein und reichte ihr diese. Lena setzte sich, liess sich Zeit. «Und, wo warst du?» Lena antwortete nicht direkt. «Reservier dir bitte schon mal Samstag in drei Wochen.» «Wie bitte?» «Reservier dir bitte Samstag in drei Wochen, denn …» Kleine Kunstpause. «Ich habe Möbel gekauft. Ein Bett, um genau zu sein.» Marina lachte – und Lena lachte mit. «Wie lange liege ich dir damit schon in den Ohren, und Luis schafft es in einer Nacht – Respekt.» «Es liegt nicht an Luis», setzte Lena an. Marina hob die rechte Augenbraue. «Okay, vielleicht ein bisschen, aber nicht nur. Ich habe einfach keine Lust mehr auf ein Leben in der Warteschleife. Ich will etwas auf die Beine stellen. Und darum brauche ich jetzt von dir eine Stilberatung fürs Fame Academy Casting.» «Eine Stilberatung wofür? Für ein Casting? Hab ich das im Ernst richtig verstanden?» «Ja, ich gehe am Samstag nach Zürich, nehme teil und mach daraus eine Reportage.» Marina stand einen Moment still, dann jubelte sie: «Das ist super! Also, los geht’s.» Mit der ihr typischen Euphorie öffnete sie Lenas Kleiderschrank. Und zog schon bald eine Hose hervor, die Lena vergessen hatte: schwarzer Trikotstoff mit aufgestickten Blumen, unten ausgestellt. «Deine Trainingsschuhe sind doch auch schwarz, oder?» «Jep.» «Also passt, Ton in Ton. Jetzt brauchen wir ein knallrotes Top, eine schwarze Pullover-Jacke und schwarz-rote Creolen. Dann reicht dir beim Make-up etwas Abdeckstift, Wimperntusche und Lipgloss. Top und Jacke hast du nicht, oder?» «Nein, kann ich leider nicht dienen.» «Okay, besorg ich morgen nach der Vorlesung.» «Du bist einfach unglaublich, woher hast du all deine Ideen?» «Irgendeinen Effekt muss das Schuleschwänzen von früher ja haben.» «Ich habe da eher andere Effekte befürchtet.» Liebevoll betrachtete Lena ihre Schwester, während sie sich setzten. «Das hat sich ja glücklicherweise anders entwickelt.» Marina zwinkerte Lena zu. «Ich mach übermorgen für Marco und Martin eine Privatshow. Vielleicht willst du dir ja das Gesamtkunstwerk mitanschauen?» Wollen schon, nur können nicht. Ich hab jemanden kennengelernt. Er heisst Carlo, ist DJ und phantastisch.» Marina verdrehte vor Entzücken die Augen. Lena tat ihr den Gefallen. «Wie sieht er aus?» «Er ist etwa eins achtzig gross, dunkle Haare, stahlblaue Augen.» «Also der perfekte Latino?» «Etwas korpulenter vielleicht als der perfekte Latino. Aber das macht überhaupt nichts. Dafür hat der Hände. Riesige Hände, denen man die Kraft nur so ansieht. Wir haben beim letzten Treffen die ganze Nacht verquatscht. Und der hat tatsächlich zugehört.» «Aha, und jetzt willst du, dass er übermorgen wieder zuhört?» «Irgendwie schon, weiss nicht so genau. Vermisse ihn einfach.» Plötzlich war Lena wieder die grosse Schwester, von der man wissen wollte, wie die Welt funktioniert. «Lass dir Zeit. Wenn du ihn vermisst, bedeutet das schon was. Aber ob das an ihm oder an dir liegt, zeigt sich erst mit der Zeit.» «Kann man das nicht einfach wissen?» «Manchmal schon, aber nicht immer.» «Warum ist das Leben so kompliziert?» «Das habe ich auch noch nicht herausgefunden.» Marina seufzte einmal tief, hob den Kopf und erklärte: «Ich muss jetzt nach Hause, sonst wird das nichts.» Sie hob den Zeigefinger: «Und du musst schlafen, damit du fit bleibst.» Lena nickte, brachte Marina zur Tür. «Komm gut nach Hause.» Keine zwei Minuten später war es ruhig im Haus. Und Lena tat, was Marina geboten hatte.