Lena trat aus der Tür und musste tief durchatmen. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade erlebt hatte. Der Hauseingang der Bahnhofstrasse 138 hatte sie noch nicht wirklich beeindruckt. Doch als sich im fünften Stock die Fahrstuhltür öffnete, war es vorbei mit ihrer sorgfältig gesammelten inneren Ruhe. An einem riesigen weissen Schreibtisch sass offensichtlich die Rezeptionistin des Edwin Karcher Verlagshauses. Der hellgraue Teppich schluckte jeden Schritt, sodass es trotz geschätzter 30 Büros und der zahlreichen Mitarbeiter erstaunlich ruhig war. «Guten Tag, mein Name ist Lena Kronenberg, ich habe um 17 Uhr einen Termin mit Marcel Brugger.» «Herzlich willkommen, Frau Kronenberg, ich werde Frau Gass gleich Bescheid geben, dass Sie da sind. Nehmen Sie doch einen Moment Platz», die Rezeptionistin wies auf eine dunkelgraue Couch links von sich. «Vielen Dank.» Lena nutzte die Gelegenheit, sich weiter umzusehen. Der Raum war sehr schlicht gehalten. Wenige Bilder, mal in Posterformat, mal lang und schmal oder als Panorama, zeigten Momentaufnahmen aus dem Zürcher Alltagsgeschehen. Ein Mann, der einem Kind die Nase putzt. Eine Frau, die auf der Rolltreppe Trompete spielt. «Gefallen Ihnen die Bilder?» «Das weiss ich noch nicht. Sie fesseln einen, aber ob gefallen das richtige Wort ist?» «Das können wir ja gemeinsam herausfinden. Guten Tag, Frau Kronenberg, mein Name ist Marcel Brugger, wir haben einen Termin.» Lena zuckte leicht zusammen und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. «Guten Tag, Herr Brugger.» «Wollen wir in mein Büro gehen?» «Gerne.»

Auch in Marcel Bruggers Büro beherrschte ein weisser Schreibtisch den Raum. Hier allerdings mit drei instabil wirkend hohen Papierstapeln geschmückt. «Nehmen Sie Platz. Gern ein Glas Wasser?» «Gerne.» Er machte ein paar Schritte zu einem Beistelltisch und füllte zwei Gläser. Lena hatte inzwischen Block und Stift ausgepackt. Marcel Brugger stellte die Gläser hin und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. «So, Frau Kronenberg. Als Erstes möchte ich mich für Ihre Zusendung bedanken. Wie sind Sie auf die Idee für die Geschichte gekommen?» Lena überlegte einen Moment. «Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich habe einfach die Berichterstattung über die verschiedenen Castingsendungen verfolgt und mich immer gefragt, warum keiner eine wirklich reale Person begleitet. Vielleicht ein bisschen beeinflusst von der Geschichte Günter Wallraffs, die in Deutschland gerade wieder präsent war.» «In Deutschland?» «Ja, ich habe bis vor Kurzem in Karlsruhe gelebt.» «Und wie ist die Medienszene da?» «Ich würde sagen sehr klassisch. Die journalistischen Formen werden gepflegt – bis zum Boulevard. Aber es ist …», Lena scheute sich davor, ihre eigenen Thesen in die Welt zu setzen. «Es ist wenig kreativ. Experimente finden nur Platz, wenn sie von bereits etablierten Journalisten getätigt werden.» Marcel Brugger nickte. «Und das ist genau, was wir bei unserem Wochenmagazin «alive» ändern wollen. Wir arbeiten an einem neuen Ressort. «Human» als Überbegriff. Reale Charaktere, die sogenannten Massenphänomenen ein Gesicht geben. Berühmtheiten in neuen Umfeldern. Es soll sehr vieles Platz finden können, wenn es weg vom reinen «Schöngesichtbildchen» geht. Kurz und gut, wir möchten Ihre Geschichte drucken. Das sollte allerdings recht schnell gehen. Druckschluss ist kommenden Montag und wir brauchen noch Bildmaterial. Wenn wir Ihnen einen Fotografen an die Hand geben, können Sie das organisieren?» Lena blieb die Luft weg, sie nickte trotzdem. «Das dachte ich mir.» Hatte Marcel Brugger gerade geschmunzelt? Er reichte Lena eine Visitenkarte. «Am besten nehmen Sie heute noch Kontakt mit Carlo Leu auf. Er hat nicht die üblichen Bürozeiten, keine Sorge. Damit wäre der erste Punkt geklärt.» Marcel Brugger griff zu seinem Wasserglas, bevor er weitersprach. «Wie gesagt, entsteht bei «alive» ein neues Ressort. Darum verstärken wir unsere Redaktion. Wir würden Ihnen gerne ein Angebot machen.» Lena musste sich sehr beherrschen, um nicht vor Freude loszuschreien. Stattdessen fragte sie freundlich: «Das klingt sehr spannend, woran hatten Sie genau gedacht?» «Vorerst geht es um eine Stelle als Redakteurin. Sie würden mit drei anderen Frauen zusammenarbeiten und direkt der Chefredaktion unterstehen, also mir. Was die Konzeption betrifft, richtet sich die Arbeit nach Ihnen. Legen Sie eine Idee vor, die gefällt, haben Sie völlig freie Hand. Diesbezüglich kann ich Ihnen nur den Tipp geben, studieren Sie das Heft. Nach einem halben Jahr schliessen wir die Testphase ab. Keine Angst, das würde nicht heissen, dass Sie Ihren Job sofort wieder los sind. Aber das Ressort soll seine Linie gefunden haben, die einzelnen Gefässe entwickelt sein. Dann werden auch personell die Karten neu gemischt. Eine Ressortleiterin gesucht, beispielsweise. Was sagen Sie dazu?» Diesmal konnte Lena nicht an sich halten. «Das klingt super. Dazu könnte man auch generationenübergreifende Projekte machen wie Gespräche von Teenagern mit Senioren im Altersheim. Oder das Vorstellen ungewöhnlicher Berufe und …» Marcel Brugger bremste Lena, indem er die Hand hob. «Ich freue mich, dass Sie dabei sind. Aber dann sollten wir auch diese Details noch besprechen.» «Natürlich.» Lena setzte abwartend den Stift, der schon während der ersten Ausführung über das Papier gesaust war, wieder auf. Marcel Brugger schlug die dezente graue Mappe auf, die vor ihm lag. «Die Wochenarbeitszeit beträgt normalerweise 40 Stunden. Dass sich das im Einzelfall nach spezifischen Bedürfnissen richtet, brauche ich Ihnen kaum zu erklären.» Lena schüttelte leise lachend den Kopf. «Sechs Wochen Ferien, Bruttoverdienst im ersten Halbjahr 6000 Franken. Falls Sie uns danach erhalten bleiben, sind weitere Steigerungen durchaus möglich. Marcel Brugger klappte die Mappe zu. «Was sagen Sie?» «Ich nehme Ihr Angebot gerne und mit Begeisterung an.» «Das wollte ich hören.» Marcel Brugger schob Lena die Mappe über den Tisch. «Bitte nehmen Sie den Vertag mit nach Hause, studieren ihn genau und senden ihn bis spätestens Ende dieser Woche an uns zurück. Falls sich weitere Fragen ergeben, zögern Sie nicht, mich anzurufen.» Marcel Brugger erhob sich. Lena nahm die Mappe und schob sie sorgfältig in ihre Tasche. Sie schüttelten sich die Hände. «Ich danke Ihnen.» «Nichts zu danken. Und was die Bilder zur Reportage betrifft, melden Sie sich bitte bei meiner Sekretärin, sobald Sie die Details mit Herrn Leu geklärt haben.» «Selbstverständlich.» «Alle nötigen Telefonnummern finden Sie auf meiner Visitenkarte in der Mappe.» «Sehr gut, ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.» «Gleichfalls, Frau Kronenberg.»

Lena wusste nicht so genau, wie sie das Verlagsbüro verlassen hatte. Doch jetzt stand sie da mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche und der Aufgabe, die Bilder für ihre eigene Reportage zu organisieren. Sie hätte es am liebsten in die Welt hinausgeschrien. Stattdessen besorgte sie sich auf dem Weg zum Bahnhof noch ein indisches Curry zum Aufwärmen und ein Lassi zum Dessert. Sie wollte sich zu Hause erst einmal sammeln, sich in Ruhe überlegen, wie das mit den Fotos werden sollte. Schliesslich würde das ihre erste Reportage dieser Grössenordnung. Und dann der Vertrag – kannte sie jemanden, mit dem sie diesen besprechen konnte? Kündigen musste sie auch noch. Die Tage der Krankenkassenbelege sind gezählt, sie feixte. Weil die ganzen Tatsachen wie wild in ihrem Kopf herumsprangen, griff sie schon während der Zugfahrt wieder zum Block. Das Feiern verschob sie aufs Wochenende. «Dann, wenn alles geklappt hat», dachte sie.