Lena war übel. Die unsanfte Handgreiflichkeit Roberts in privaten Situationen war für Lena nicht neu und so ging sie für einen Moment in der Flut der Erinnerungen unter. Ein Sommertag, sie standen gemeinsam an der Strassenbahnhaltestelle und beobachteten ein Teenagerpärchen beim Knutschen. Irgendwann legte der Junge beide Hände auf den Po seiner Freundin. «Das geht gar nicht», Lena drehte sich zu Robert um. «Ich finde, das geht sehr wohl.» Roberts Hände waren dem Vorbild des Jugendlichen gefolgt. Mit einer raschen Drehung und zwei Schritten hatte sich Lena aus dieser einseitigen Umarmung gelöst. «Das sieht aus, als wäre sie seine Puppe.» «Nein, er zeigt ihr, was ihm alles an ihr gefällt.» «Das ist privat – das geht in der Öffentlichkeit niemanden etwas an. Wer mir begegnet, soll mir ins Gesicht sehen und nicht auf meinen Hintern.» Als Ersatz für die weisse Fahne schwenkte Robert seine Tasche. «Ich werde mich dran halten.» Anzüglich grinsend fügte er hinzu: «Ich finde es nämlich auch besser, wenn die Mitmenschen auf der Strasse dir ins Gesicht sehen.» Lena war rot geworden, an derartige Anspielungen würde sie sich nie gewöhnen. Sie vergass die Szene während des gemeinsamen Einkaufens rasch. Zumal Roberts Motorrad in der Garage stand und der Trip durch die Stadt für sie beide ungewohnt war. Er hatte das Gespräch nicht vergessen. Sie waren kaum zu Hause angekommen und Lena räumte gerade die Lebensmittel in den oberen Küchenschrank, als er hinter sie trat. Robert packte auf beiden Seiten zu, bevor er sie ans Regal drückte und seine Hände weiter hochwandern liess.

Lena schüttelte sich. Sie winkte Nina, zahlte den Kaffee und verliess das Lokal. Sie machte sich auf den Heimweg und versuchte erfolglos, ihre innere To-do-Liste wieder zu finden. Sie ging die Flurtreppe hinauf und klingelte bei Marco und Martin. Marco öffnete. «Gehst du mit mir ins Gartencenter Blumen einkaufen?» Ohne die Antwort abzuwarten, stürmte Lena in die Wohnung. «Ich wünsche mir Rosen, Veilchen, Jasmin, Orchideen, Chilis, Zitronen …» «Okay, okay – ich hab verstanden», unterbrach Marco ihren Redeschwall. «Ich will nur noch schnell Martin Bescheid sagen.» «Meinst du nicht, er will mitkommen?» «Ich denke eher nicht, der ‹Falken› beschäftigt ihn doch sehr.» Lena hörte die Unsicherheit in Marcos Stimme noch nicht, zu laut waren die Stimmen der Vergangenheit. «Warum willst du eigentlich Blumen einkaufen?», fragte Marco, als sie schon die dritte Runde durchs Parkhaus Tivoli drehten. «Ich habe das Bedürfnis, etwas zu gestalten, was man anfassen kann.» Marco nickte. Als sie dann eine Viertelstunde später endlich im grünen Paradies angekommen waren, brauchten sie keine Worte mehr. Sie spazierten einmal an allen Regalen vorbei und packten ein. «Ich glaube, auf deiner Terrasse haben wir mehr Platz zum Umtopfen, was meinst du?» Lena nickte. Und wieder schwiegen sie. Sie schaufelten Erde, schnitten Blätter, gaben den Töpfen und Vasen ihren Platz, erst in Lenas Wohnung, dann war das Zuhause der beiden Männer an der Reihe. Mittlerweile war es Abend geworden. Die beiden sanken müde aufs Sofa. «Meinst du, es gefällt Martin, was wir gemacht haben?» Lena wandte den Kopf und sah, dass Marco sich Tränen von den Wangen strich. Sie umarmte ihn. «Natürlich, was für eine Frage. Schau dich um, was du ausgesucht hast, passt doch perfekt zu seinen Bildern. Du hast eure Wohnung noch schöner gemacht, falls das überhaupt möglich ist.» Marco schluckte, dann atmete er durch: «Ich bin froh, dass ich heute nicht allein bin.» «Das Hotelprojekt beschäftigt Martin schon sehr.» Fragend sah Lena ihren Freund an. «Naja, wenn er morgens aus seinem Malzimmer kommt, sieht er glücklich aus. Er erzählt von Jugendstilmustern und moderner Schlichtheit. Ich freu mich, ihm zuzuhören, aber ich hab doch nicht wirklich Ahnung, wovon er spricht.» «Das ist doch egal. Das Wichtigste ist doch, dass er erzählen kann und du zuhörst.» «Meinst du?» Marco lehnte sich bei Lena an und seufzte. «Ich vermisse es halt einfach, mal alleine Zeit mit ihm zu haben.» «Ich bin sicher, Martin vermisst das auch, aber das Projekt ist halt einfach eine Chance, und die will er jetzt nutzen.» «Tut gut, mal darüber zu reden, ich dachte schon, ich werde zickig.» Lena lachte: «Ich sag dir schon, wenn du zickig wirst. Schliesslich würde Zickigkeit deine Ausstrahlung empfindlich stören.» Marco gluckste: «Und das wollen wir selbstverständlich vermeiden.» «Auf jeden Fall.» Unvermittelt fixierte Marco Lena. «Dein Bedürfnis nach Gestaltung heute ist doch auch nicht von ungefähr gekommen?» Lena atmete durch, bevor sie antwortete: «Robert war hier.» «Was?!» Marco war aufgesprungen vor Schreck. «Und das sagst du erst jetzt?» Lena zuckte mit den Schultern. «Ich war vorher irgendwie nicht in der Lage dazu.» «Und was ist passiert?» «Ich hab ihm gesagt, dass ich die Scheidung will und er hat gemeint, ich könnt es ja mal versuchen.» «Das ist alles?» «Irgendwie ja und nein. Ich hab gerade keine Worte dafür.» «Hast du eigentlich heute schon etwas gegessen?», fragte Marco. Lena lachte. «Lach nicht, essen hat auch was mit Gestalten zu tun. Schliesslich kocht man mit den Händen» «Du hast recht. Nein, ich habe heute noch nichts gegessen. Aber ich wüsste gerade auch überhaupt nicht was.» «Okay, ich mach dir Vorschläge und du sagst ja oder nein. Lasagne.» «Nein.» «Dampfnudeln mit Vanillesosse.» «Nein.» «Curry mit Reis.» «Können wir auch Hörnli dazu machen?» «Können wir, aber wie kommst du auf Hörnli?» «Als ich klein war, hat mir meine Mutter immer Hörnli mit Hackfleisch und Rahmsosse gemacht, wenn ich krank war. Und Curry mit Hörnli könnte ja die Erwachsenenversion davon werden.» «Das ist selbstverständlich ein Argument für ein gutes Curry.» Eine Stunde später sassen die beiden satt und zufrieden vor dem Fernseher und sahen sich «Kiss the Cook» an. Und schon als der Abspann lief, schnarchten sie im Duett.