Erst als Lena im Zug sass, spürte sie ihre Müdigkeit. Die Gedanken in ihrem Kopf spielten Karussell. Ein eigener Schreibtisch in der Redaktion eines Magazins. Geschichten entwickeln statt Aufträge entgegennehmen. Eine eigene Wohnung – selbst gewählte Möbel. Lachen mit Marco und Martin. Modische Reisen mit Isabelle. Und immer wieder Luis – als lederjackentragender Bigfoot, lachend in der Bar, in ihrem Bett. Unwillkürlich strich Lena sich über den rechten Oberarm, wo seit einigen Wochen ihr Tattoo prangte. Luis hatte Wort gehalten. Lena musste schmunzeln. Das Studio in den zwei Kellerräumen sah aus, als hätte man eine Zahnarztpraxis ins heimische Badezimmer verlegt. Und dass sie die Nadel schon nach kurzer Zeit kaum noch spürte, lag sehr wahrscheinlich daran, dass der Tätowierer selbst während dem Stechen besondere Zigaretten rauchte. Glücklicherweise war die Haut schon nach zwei Tagen gut verheilt. Und wann immer ihr Blick auf das schlichte Kunstwerk fiel, freute sie sich. Sie griff nach ihrem Handy. «Hey Grosser, hab gerade an dich gedacht und mich gefragt, wie es dir geht. Schreib mir doch, wenn du Zeit hast. Ich würde mich freuen.» Sie dachte einen Moment nach und setzte dann «Kuss Lena» an den Abschluss. Auch wenn die gemeinsamen Momente weit entfernt von einer Beziehung lagen, wie Lena sie sich einst vorgestellt hatte, ihre Gefühle für Luis waren mehr als Freundschaft.

Verträumt wie sie dasass, wäre sie beinahe an ihrer Haltestelle vorbeigefahren. «Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst, Mädchen. Etwas essen und dann ab ins Bett.» Sie öffnete den Briefkasten – darin die Scheidungskonvention. Sie hielt die Hand mit dem Umschlag ausgestreckt von sich weg, erst in der Wohnung liess sie Tasche, Schlüssel, Jacke fallen, nahm das Kuvert in beide Hände und setzte sich auf die Couch. Lena sah sich vor der Leinwand und Leonardo di Caprio schrie: «Ich bin der König der Welt.» Lena liebte «Titanic». Die opulente Inszenierung, die unzähligen Details von dem Golddekor der Gläser über die Schnitzereien am Treppengeländer bis zu den Stickereien auf den Kleidern. Kate Winslets gefühlter Flug über den Schiffsbug hinaus. An jenem Abend sah sie den Film zum dritten Mal. Im Kino lief er längst nicht mehr. Robert hatte sie zu einer Mehrzweckhalle in Blankenloch gefahren – mitten unter der Woche, zwischen Steuerabschlüssen und Weiterbildung. Lena hatte Roberts Hand an diesem Abend kaum je losgelassen. Sie weinte, nur dass die Tränen diesmal dem Ende ihrer Liebe galten, das nun mal kein inszeniertes war. Die Tragik des wahren Lebens, dachte sie, während sie nach einem Taschentuch suchte. «Hier erklärt dir keiner, warum die grossen Gefühle enden. Es gibt keine Auflösung zum Guten. Wahrscheinlich gehört Gott zu den griechischen Tragödienschreibern», fluchte sie leicht. Sie stand auf, räumte ihre Sachen weg. Sie legte den Briefumschlag auf den Schreibtisch und ging ins Bad. Lena wusste, heute war sie dieser Herausforderung nicht gewachsen, auch wenn sie nur in einer Unterschrift bestehen mochte. So kurz vor dem offiziellen Ende ihrer Ehe kehrten die schönen Bilder der Vergangenheit zurück. In einem barocken, weissen Kleid war sie in der Kirche auf Robert zugegangen. Ihre Mutter sass in der ersten Reihe, strahlend vor Stolz auf ihre älteste Tochter. Die Lieder für den Gottesdienst hatten die beiden Frauen gemeinsam ausgesucht. «Ja, ich will.» Lena hatte Farbe in den Haaren, Robert im Gesicht – aus dem Transistorradio, das er im Keller gefunden hatte, dröhnte «Pur». In ihrem gemeinsamen Haus störte weder die Musik noch die Renovierung bis nachts um zwölf irgendwelche Nachbarn. «Hier könnten wir ein Kinderzimmer einrichten.» Lena hoffte, der Film würde abreissen. Dann hätte sie die Rolle Zelluloid einfach entsorgen können. Sie schüttelte sich. «Wenn Gott kein Liebhaber griechischer Tragödien gewesen wäre», fluchte sie noch einmal leise, bevor sie einschlief.