Am nächsten Morgen war Lena nicht wie bis anhin die Erste im Büro. Julia sass bereits am Computer und wirkte sichtlich gestresst. «Guten Morgen», grüsste Lena. Julia hob den Kopf und nickte knapp zur Erfüllung der Höflichkeit. Das versetzte Lena in Alarmbereitschaft und sie vergass zwischenzeitlich, dass sie auf eine Nachricht von Oliver gehofft hatte. «Scheisse, die nicht auch noch», fluchte Julia. Lena drehte sich um und sah, wie die Arbeitskollegin sich die Haare zerzausend ungläubig den Bildschirm anstarrte. «Was ist los?» «Gestern Abend haben mir zwei von fünf Pärchen die Termine für die Reportagegeschichte abgesagt. Nicht verschoben – abgesagt. Und jetzt kriege ich ne Mail von der Mutter meines Teenagerboys mit der Absagebegründung: Eine solche Geschichte könne ihm bei späteren Bewerbungsgesprächen schaden.» Julia schwammen gerade die Felle für ihr Projekt «Liebe im Wandel der Zeit» davon, so verkniff sich Lena die Aussage, dass die Mutter ja nicht ganz unrecht habe. «Die Paare welcher Altersgruppen fehlen dir?» Julia wollte schon genervt abwinken, aber Lena sah sie so eindringlich an, dass sie seufzte: «Die Teenies, die Mittzwanziger und jene um die 50.» Lena überlegte. «Was die Teenies betrifft, gibt es nicht bei der ‹Pro Juventute› Beratungsgespräche oder Programme zum Thema ‹Erste Liebe›? Vielleicht können dir die dortigen Fachpersonen weiterhelfen.» Julia schwieg. Lena fuhr fort: «Bei 50plus würde ich einen Paartherapeuten konsultieren. Ich könnte mir vorstellen, dass in diesem Alter eine Neuorganisation des Lebens ansteht und dass diese nicht allen Paaren leichtfällt. Und was die Mittleren betrifft: Setz dich in eine Bar, warte, bis das perfekte Paar auftaucht …» «Schluss, aus, Ende», unterbrach Julia Lenas Brainstorming. «Die Vorschläge sind alle gut. Aber warum hilfst du mir? Wir sind Konkurrentinnen.» Lena atmete tief ein, bevor sie antwortete: «Ja, wir sind Konkurrentinnen und ich bin ehrgeizig. Aber ich glaube nicht, dass wir als Einzelkämpferinnen Eindruck schinden. Ein gemeinsames Feuerwerk mit individuellen Stilen halte ich für effektiver.» «Das ist sehr idealistisch. Die Branche ist hart und ich habe schon so manche Frau nach Hause gehen sehen.» «Lieber gehe ich morgen oder an einem anderen Tag mit Pauken und Trompeten unter, als dass ich mich von vornherein dem egoistischen Mittelmass verschreibe.» Julia schmunzelte: «Du bist eine Menge Lena – aber nicht Mittelmass.» Lena bekam einen roten Kopf. «Danke für das Kompliment. Von jemandem gelobt zu werden, der von der Frauenliga für seinen Beitrag zur Emanzipation ausgezeichnet worden ist – wirklich etwas Besonderes.» Die Frauen klopften sich gegenseitig auf die Schultern. «Du hast dich also in meine Frühwerke eingelesen.» «Selbstverständlich. Ich muss doch wissen, mit wem ich zusammenarbeite.» «Ich finde es beruhigend, dass du professioneller und neugieriger bist, als du manchmal wirkst. Manchmal hat mir deine scheinbare Naivität Angst gemacht.» «Julia, ich bin naiv. Ich habe noch wenig Erfahrung in dem Business. Was soll ich da anderes sein? Vielleicht unterscheidet aber gerade das mich von den ‹Dutzendjournalisten›.» «So habe ich das noch nie betrachtet.»

Von der Tür des «Aquariums» winkte inzwischen Marcel Brugger. «Meine Damen, wenn Sie sich zu mir gesellen würden. Ich möchte auf den neuesten Stand gebracht werden.» Das Lächeln ihres Chefs war immer freundlich. Doch Lena spürte, dass sich hinter den Gesten viel verbarg. Die neue Abteilung war seine Vision. Dass er sie umsetzen würde, war nicht die Frage. Manchmal machte Lena sich Gedanken über den Preis. Doch nicht heute – denn Marcel Brugger schwenkte die Seiten mit ihrer Geschichte über Carlos und den Koch Frank Marlin. «Das ist sehr gut geworden, Frau Kronenberg. Der Text gefällt mir, vielleicht ein paar Satzzeichen hie und da, ich habe ihnen die Änderungen eingezeichnet.» Julia punktete bei der Frage nach ihrem Text mit Lenas Lösungsvorschlägen und grinste ihr dabei verschwörerisch zu. Lena nahm es kaum wahr, in ihrem Kopf entstanden bereits die nächsten Geschichten. Erst zur Stuntfrau, dann zum Friedhofsgärtner, oder umgekehrt? Sie verliess das «Aquarium» nach Sitzungsende und wollte gleich Telefonnummern recherchieren, da sah sie die Rose. Mitten auf ihrer Tastatur. Kein Zettel, keine Nachricht. «Hast du einen heimlichen Verehrer?» «Ich habe keine Ahnung, was genau dahintersteckt.» Sie griff nach der leeren PET-Flasche, die sie gestern zu entsorgen vergessen hatte, und ging zur Kaffee-Ecke, um sie mit Wasser zu füllen. Wieder zurück, stellte sie die Rose rechts von ihrem Bildschirm auf, genoss einen Moment das tiefe, dunkle Rot, bevor sie sich ihrer Mailbox zuwandte. Es öffnete sich ein weisses Fenster mit rotem Rahmen: «Liebe Lena, ich schulde dir noch eine Textkritik. Darum lade ich dich zum Abendessen ein. Soweit ich weiss, gefällt Marcel Brugger deine Geschichte, also darf ich mich mit dir freuen! Details per Computer. Gruss Oliver.» Rasch griff Lena nach ihrem Handy und fotografierte die Nachricht. Sie schloss das Fenster, sah sich scheu um. Alle schienen mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt zu sein. Sie seufzte erleichtert. Was hatte sich Oliver dabei gedacht? Sie zum Essen einzuladen. Wo wollte er überhaupt mit ihr hin? Und was hiess «Details per Computer»? Würde ihr einfach irgendwann wieder ein Fenster entgegenleuchten? Sie wusste nicht, ob sie sich ärgerte oder freute. Ihr Blick fiel auf die Rose, sie lächelte unwillkürlich. Ihr Herz klopfte, bevor sie sich selbst innerlich zur Ordnung rief. Ich werde es herausfinden – auf die eine oder andere Weise, dachte sie.