Es war schon zehn Uhr, als Lena am nächsten Morgen aufwachte. Sie hatte sehr gut geschlafen und genoss es, sich in aller Ruhe zu räkeln. Wenn sie den gestrigen Tag Revue passieren liess, staunte sie über das Tempo der Ereignisse. Gleichzeitig spürte sie den Wunsch, etwas die Bremse anzuziehen. Luis war noch nicht lange weg, sie ging bereits mit dem nächsten Mann aus, während ihre Scheidung noch nicht mal über die Bühne war. Die neu gewonnenen Freunde hatte sie inmitten des Arbeitstrubels bereits vernachlässigt. Lena schüttelte sich. Das zumindest liess sich ändern. Sie griff zum Telefon und rief Isabelle an. «Sie haben den Anschluss von Isabelle Matthis gewählt. Leider haben Sie diesmal Pech gehabt. Ich bin bis Ende des Monats in den Ferien und werde Sie in dieser Zeit nicht zurückrufen. Danach bin ich gerne wieder für Sie da.» Lena lachte, der Spruch war typisch Isabelle. Sie liebte ihre Arbeit, sie arbeitete viel. Aber was sie am meisten liebte, war ihr Leben.

Lena sprang aus dem Bett. Sie duschte ausgiebig, zog sich an und ging dann hinüber zu ihren Lieblingsnachbarn. Marco öffnete: «Hallo, schöne Frau, was für eine tolle Überraschung. Wir wollten schon bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben. Aber als gestern Nacht eine Kutsche mit Prinz und Prinzessin vor dem Haus gehalten hat, waren wir beruhigt.» «Ihr kriegt einfach alles mit.» Marco grinste: «Es gab ja gar nichts mitzukriegen. Der Prinz ist schliesslich ganz wohlerzogen wieder nach Hause gefahren und du bist allein die Treppen zu deinem Gemach hochgestiegen.» «Das ist wohl so. Und was es mit dem Prinzen tatsächlich auf sich hat, weiss ich selbst nicht so genau», meinte Lena ausweichend. «So kommst du mir nicht davon. Komm doch rein und frühstücke mit uns. Wir können ja erst mal mit was Leichterem, wie etwa dem Verlauf der letzten Tage und Wochen, anfangen.» «Da kann kein vernünftiger Mensch Nein sagen.» Lena knuffte Marco in die Seite und setzte sich. Martin stiess zu ihnen. Er roch frisch geduscht, zog sich gerade ein dunkelblaues T-Shirt über den Kopf und küsste seinen Liebsten, bevor er Lena übers Haar strich: «Die verlorene Tochter ist heimgekehrt.» Lena faltete pflichtschuldig die Hände: «Es tut mir leid, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, und ich gelobe Besserung. Könnt ihr mir noch einmal Absolution erteilen?» Martin legte mit ebenso gespielt ernsthafter Miene Lena die Hand auf den Kopf: «Erteilt.» «So, können wir jetzt zu den wirklich wichtigen Dingen wie dem Prinzen von gestern Abend kommen?» Marco schüttelte ungeduldig den Kopf. «Ihr zwei seid unmöglich.» Lena lachte. «Also der Prinz ist eigentlich Techniker und Computerspezialist. Er arbeitet in dem Verlag, wo ich bin.» «Aber da wird er ja wohl kaum der Einzige sein. Wie habt ihr euch kennengelernt?» Marco gab sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. «Naja, ich hab mich an meinem ersten Arbeitstag ans Pult gesetzt, aber der Computer hat das Passwort nicht akzeptiert, da ist er unter einem Tisch hervorgekrochen.» Lena hörte selbst, wie komisch das klang. «Unter dem Tisch hervorgekrochen?», echoten die Männer wie erwartet. «Ja. Ich meine, er hat am anderen Tisch noch Kabel überprüft und hat dann mir geholfen.» «Und die Kutsche?» «Das ist ein Rätsel, das nur er lösen könnte.» Fragende Blicke. «Er hat mir geholfen, als ich bei der Themensuche feststeckte. Ich habe seinen Vorschlag weiterentwickelt, meinem Chef hats gefallen und die Geschichten machen jetzt wirklich Spass. Für diesen Dienst wollte er mit mir essen gehen. Erst habe ich versucht, es ihm auszureden. Dann hab ich gedacht, Abendessen ist eigentlich okay. Aber als wir aus dem Restaurant kamen, stand da die Kutsche. So, als ob er gewusst hätte, dass ich das schon immer mal machen wollte.» «Und warum ist er wieder heimgefahren?» «Das weiss ich genauso wenig wie ihr. Vielleicht hat er gespürt, dass es mir unangenehm wäre, etwas mit einem Mann aus meiner Arbeitsumgebung anzufangen.» Marco und Martin lächelten sich vielsagend an. «Ihr braucht gar nicht so zu kucken. Martin, erzähl mir lieber mal, was dein Hotelprojekt macht.» «Ich weiss zwar, dass du nur ablenken willst. Aber ich zeigs dir trotzdem.» Martin lief mit strahlendem Lächeln in sein Büro und kam mit einem ganzen Stapel an Unterlagen zurück. «Erinnerst du dich noch an deinen Tipp beim Pizza-Essen?» Martin wartete keine Antwort ab. «Ich meine den, ich sollte mir Filme ansehen, deren Styling mir gefällt. Das hab ich gemacht, einmal quer durch unser DVD-Regal. Hängen geblieben bin ich bei ‹Titanic›, wegen der Opulenz und den Jugendstil-Elementen.» «Du hast ein ganzes Hotel im Jugendstil eingerichtet? Wird das fürs Auge nicht zu üppig?» «Ich habs mit modernem Norden kombiniert. Siehs dir an.» Er drückte Lena Fotos in die Hand. Sie war begeistert: Viel Weiss, kombiniert mit Sand, Terracotta und Pfirsich. Florale Elemente als Intarsien im Parkett integriert oder in der Form von Tür- und Fenstergriffen. Die unterschiedlichen Bereiche im Foyer waren mit Schmuckgittern voneinander abgegrenzt, wie man sie aus grossen Gärten kannte. «Du siehst, es geht nicht um goldenen Kitsch. Dunkles Eisen, warme Farben und Blumenbouquets, wo auch immer sie alle hinpassen.» «Martin, du bist ein Genie. Das sieht fantastisch aus.» «Du könntest es dir in Natur ansehen. Und was zu essen gäbe es dabei auch.» Lena verstand nicht. «Mädel, hast du deinen journalistischen Geist heute in die Ferien geschickt? Am nächsten Freitag ist Eröffnung, und das wird selbstverständlich angemessen gefeiert.» Als Lena sich das Datum ausgerechnet hatte, wurde ihr Gesicht plötzlich ernst. «Nächsten Freitag ist mein Scheidungstermin, entfuhr es ihr. «Der dauert nicht bis zum Abend.» Martin wollte sich nicht abwimmeln lassen. «Nein, du hast recht. Aber ich weiss nicht, ob ich danach noch einmal raus will.» Martin holte gerade Luft für den nächsten Überzeugungsschlag, als Marco ihm die Hand auf den Arm legte. «Das verstehen wir, aber wir legen dir trotzdem eine Einladung in den Briefkasten, dann kannst du spontan entscheiden, was du machen willst.» Martin schluckte zwar leer, nickte aber tapfer. «Danke. Ich weiss einfach nicht, wie es mir an diesem Tag geht.» «Ist doch klar. Aber heute habe ich schon mal eine schlechte Nachricht für dich. Wir schmeissen dich jetzt raus. Ich habe nämlich für Martin und mich einen Kinobesuch geplant. Damit er vielleicht für einen kurzen Moment von seinem Riesenprojekt loskommt und etwas entspannen kann.» Lena nickte: «Das ist wichtig. Macht das.» Sie knuffte Marco in die Seite: «Es ist schön zu sehen, dass das Projekt euch nicht mehr so durcheinanderbringt wie auch schon.» «Man muss halt einfach in Ruhe darüber sprechen», feixte Marco verschwörerisch und geleitete Lena zur Tür. «Machs gut, Süsse, und lass dich nicht von deinem Weg abbringen.» «Ich geb mir Mühe.»

Gedankenversunken ging Lena zurück in ihre Wohnung. Marco und Martin waren ein schönes Paar. Und wenn sie ehrlich mit sich war, wünschte sie sich genauso jemanden für sich. Ein Mensch, mit dem sie Freud und Leid teilen konnte, wie es so schön hiess. Also die Rose beim Frühstück und die nach der Arbeit stinkenden Füsse. Aber träumen, das hatte sie gelernt, tut man erst einmal allein. Man kann keinem anderen dieselben Visionen einpflanzen. Ein wenig melancholisch griff sie zum Schreibblock und versuchte, sich mit Arbeit abzulenken.