Als Lena am Montagmorgen im Zug zur Arbeit sass, war sie nervös. Sie hatte am Abend zuvor einen Smiley von Luis erhalten. Sein Zeichen, dass er gut in Süditalien angekommen war. Da dämmerte ihr, dass sie keine Handynummer von Oliver hatte. Sie konnte sich nicht mit ihm absprechen, was ihr Verhalten im Büro betraf. Wie würden sie sich begegnen? Sich begrüssen? Lenas Hände zitterten, als sie die letzte Glastür zum Büro aufstiess. Er war nirgends zu sehen. Aber sie traute ihm zu, kaum dass sie sich auf den Bildschirm konzentrierte, aufzutauchen. Lena seufzte. Hilft nichts, dachte sie, liess den Computer an und öffnete die Mailbox.

Betreff: Ferienvertretung

Bitte beachten Sie, dass unser Computertechniker Oliver Welch diese Woche Urlaub hat. Seine Vertretung übernimmt Felicitas Hoffmann (Tel. 073 697 70 73).

Mit freundlichen Grüssen

Clara Schüppbach

Lena schluckte. Sie hätte erleichtert sein können. Doch das Gespräch mit Oliver, das erste Aufeinandertreffen nach dem Abendessen, verschob sich nur durch Olivers Urlaub. Lenas Handy klingelte: «Hallo Schwesterherz, kann ich heute zum Abendessen kommen? Ich sorge auch dafür, dass wir nicht verhungern.» «Keine Pizza.» «Warum?» «Darum – keine Pizza.» «Okay. Hörnli und Ghacktes?» Lena atmete durch. «Ja, das ist die perfekte Alternative.» «Um 18 Uhr?» «Eine halbe Stunde später, okay? Ich will noch zum Friedhof.» «Passt, grüss Mama von mir. Bis später.» Lena legte das Handy weg. Sie wusste, warum Marina zum Essen kommen wollte. Marina wollte sie vom Scheidungstermin in dieser Woche ablenken. Sie seufzte noch einmal, dann machte sie sich an die Arbeit.

Sie war froh, dass sich in der Redaktion schon Automatismen entwickelt hatten. Termine wahrnehmen, Bilder organisieren, schreiben. Für den Artikel heute würde sie wohl keinen Preis gewinnen, doch er war brauchbar. Auf dem Weg zum Friedhof besorgte sie frische Blumen. Am Grab angekommen, widmete sie sich eine ganze Weile der Neudekoration, bevor sie zu sprechen begann. «Hallo Mama. Ich wollte unbedingt noch vor dem Gerichtstermin mit dir reden. Ich muss wissen, hast du dich damals auch so zweigeteilt gefühlt? Ich meine, ich bin wütend über Roberts Betrug, nach wie vor. Trotzdem höre ich, wenn ich allein bin, immer noch diese hämische Stimme in meinem Kopf: Du hättest dich ja öfter hübsch machen können. Andere Frauen arbeiten auch viel, ohne ihre ganze Freizeit in Jogginghosen auf der Couch zu verbringen. Schliesslich hättest du einkaufen, kochen und putzen können.» Es hat sich so viel verändert, doch diese Stimme hat sich irgendwie in meinen Hirnwindungen eingenistet. Lena atmete durch. Bist du jemals wieder ganz zur Ruhe gekommen? Ich meine, ich erinnere mich, als ich im Teenageralter an Liebeskummer litt. Du hast mich getröstet. Aber irgendwann hast du dich umgedreht und so zu dir selbst gesagt: «Ich habe euch einfach zu viel Eigensinn mitgegeben.» Ich glaube, damit lagst du falsch. Es war nicht genug Eigensinn. Bitte schick mir deinen als Verstärkung. Ich will das Gericht am Freitag nicht als geschlagenes Weibchen verlassen. Schick mir deine Unterstützung! Lena ging die Luft aus. Mit den Worten «Ich hab dich lieb» verliess sie den Friedhof. Und sie war glücklich, dass Marina zu Hause mit Hörnli und Ghackets, dem Lieblingsgericht ihrer Kindheit, auf sie wartete.