Es ist der 8.März, Welttag der Frau. Ich stehe an der Busshaltestelle, bin auf dem Weg zur Arbeit. Da kommt sie die Strasse entlang. Eine Dame, deren offener Kurzmantel den Blick freigibt auf einen knallroten Faltenrock, eine violett schimmernde Bluse, eine Weste, auf welcher unterschiedlichste Knöpfe prangen und einen Schal, der strahlt wie ein Stück Nachthimmel. Sie bleibt neben mir an der Busshaltestelle stehen, lächelt mich an. Ich nicke ihr zur Begrüssung zu und wende dann den Blick ab, ganz schweizerische Höflichkeit. Doch ihre Präsenz bleibt spürbar, ihre Gestalt leuchtet vor meinem inneren Auge weiter. Ich blicke auf. Sie lacht. «Na endlich – ich war schon bei 100.» «Sie haben gezählt, wie lange es dauert, bis ich Sie wieder anschaue?» Sie nickt. «Und gemessen an der Zeit sind Sie wirklich ausserordentlich gut erzogen.» Jetzt lache ich auch. «Ich bin Luisa», sie streckt mir die Hand entgegen. «Graziella.» Ein Moment Schweigen, doch dann siegt meine Neugier. «Ich habe Dich hier noch nie gesehen. Bist Du gerade hergezogen?» Luisa schüttelt den Kopf. «Ich besuche Freunde, bleibe ein paar Wochen hier. Denn im Winter kann es auf dem Hausboot schon mal kühl werden.» «Du lebst auf einem Hausboot?» «Ja im Moment liege ich in einem Hafen des Zürichsees vor Anker.» «Im Moment?» Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. «Ja, denn mein Boot ist klein genug, dass es sich bei Wasserwegemangel per Laster in einen anderen Hafen verfrachten lässt.» Ich will mehr über Luisa wissen. «Und wohin bist Du jetzt unterwegs?» «Ich gehe zur Arbeit.» «Und was machst Du?» Wer auf einem Hausboot lebt, ist sicher nicht Versicherungsvertreter denke ich bei mir. Doch auch wenn ich mit einem aussergewöhnlichen Beruf gerechnet habe, verblüfft mich ihre Antwort. «Ich bin professionelle Zuhörerin.» Mir bleibt der Mund offenstehen. Sie lacht – laut und schallend. Nach ihrem Nonverbalen-Gute-Laune-Zeichen bemerkt sie: «An der nächsten Haltestelle muss ich raus.» Sie drückt mir eine Visitenkarte in die Hand. «Melde Dich doch, ich würde mich gerne länger mit Dir unterhalten.» Die Ansage des Buschauffeurs kündigt das Ende meiner traumhaften Begegnung an. Und mir bleibt im Moment nur der Gedanke: Wie gerne würde ich öfter Frauen wie Luisa kennenlernen. Unverfälscht in all ihren Eigenheiten, selbstbewusst strahlend.
PS: Ich werde Luisa bald wieder treffen…