Zu Hause angekommen, stellte Lena erst einmal das Curry zum Wärmen auf den Herd. Bis sie sich umgezogen hatte, war das Essen warm. Eigentlich hätte sie am liebsten gleich mit den verschiedenen Telefonaten losgelegt, doch sie zwang sich zur Disziplin. «Ich werde noch einen Haufen Energie brauchen, wenn ich Journalistin werde», mahnte sie sich und musste gleichzeitig lachen. «Wenn ich Journalistin werde, ist der falsche Satz. Wenn ich Journalistin bin.» Sie räumte den leeren Teller in die Spülmaschine, griff nach Block und Telefon. «Carlo Leu.» «Lena Kronenberg, es geht um Bilder für eine Reportage. Marcel Brugger hat mich an Sie verwiesen.» «Marcel Brugger», Carlo Leu lachte. «Wie geht es ihm denn?» «Ich denke gut», antwortete Lena etwas unsicher. «Aber sein Befinden war nicht Teil meines Vorstellungsgesprächs.» Carlo Leu lachte wieder. «Und was war Thema?» «Ich habe eine junge Frau porträtiert, die an einem Casting für die «Fame Academy» teilgenommen hat.» «Das ist nicht besonders spannend. Porträts über Möchtegern-Stars gibt es jede Menge. Wie haben Sie Marcel Brugger überzeugt?» «Ich habe Eva Thomann am Casting-Tag selbst porträtiert. Ich war vor Ort und habe wie sie, beziehungsweise parallel zu ihr, den Prozess erlebt.» «Das klingt schon besser. Haben Sie sich Gedanken gemacht, welche Art von Bildern Sie machen wollen?» «Ich habe überlegt, ob man eine leere Bühne, also ganz klassisch schwarzer Boden und dunkler Hintergrund vor einem leuchtend roten Vorhang, fotografieren könnte.» «Wie bitte?» «Unterbrechen Sie mich doch nicht. Das soll als eine Art Rahmen dienen, darin könnte man dann die verschiedenen Lebenssituationen einbauen, während denen man sie fotografiert. Also eine Frau auf verschiedenen Bühnen.» «Und das Hauptbild auf einer beleuchteten Bühne bzw. vor einem Fernseh- oder Kinobildschirmhintergrund. Das könnte funktionieren.» Carlo Leus arrogante Fassade bröckelte. «Mittwoch und Freitag hätte ich Zeit für die Porträtfotos. Das Bild von der Bühne organisiere ich selbst. Können Sie unsere Protagonistin briefen und mir dann Ort und Zeit mailen?» «Selbstverständlich», antwortete Lena ganz Profi. «Werden Sie ebenfalls vor Ort sein?», fragte Carlo Leu unvermittelt. «Ja, ich möchte Eva Thomann in dieser ungewohnten Situation nicht allein lassen. Das Entstehen der Geschichte war auch eine Vertrauensfrage. Das nehme ich sehr ernst.» «Ich freue mich, Sie kennenzulernen.» «Herzlichen Dank für Ihr Engagement, ich melde mich, sobald ich die Zeiten habe», beschloss Lena das Gespräch. Sie holte das Lassi aus dem Kühlschrank und nahm einen grossen Schluck. Das Telefon hatte sie eine ganze Portion Mut gekostet. Professionell auftreten ohne eigene Erfahrung im Hintergrund – es schien gelungen. Also auf zum nächsten Gespräch. «Isabelle Matthis.» «Lena, guten Abend, hast du eine Minute?» «Eine Minute ja, viel mehr nicht.» «Also Bewerbungsgespräch gut gelaufen. Arbeitsvertrag mit nach Hause genommen. Jetzt bräuchte ich jemanden, der das Ding kurz mit mir durchgeht. Mittwoch Zeit?» Isabelle lachte. «Ich finde es super, wie effizient du kommunizieren kannst. Ja, Mittwoch Zeit. Ich mache Buchhaltung und Organisation, du kannst also einfach vorbeikommen. Schreib mir eine kurze SMS, wenn du auf dem Weg bist.» «Super, ich freue mich, lass dich nicht hetzen. Bis Mittwoch.» Kurz darauf hatte Lena auch Eva erreicht. Die Schülerin freute sich, dass ihre Geschichte tatsächlich erscheinen würde. Schnell hatten sich die beiden auf Mittwochnachmittag, 16 Uhr, bei Eva zu Hause als Fototreff geeinigt. Lena legte auf und trank ihr Lassi leer. Die vereinbarte Uhrzeit bedeutete aber auch, dass sie an diesem Tag früher von der Arbeit wegmusste. Einen Arzttermin vorschieben, weil der Vertrag für den neuen Job noch nicht komplett unter Dach und Fach war? Nein – Lena entschied sich dagegen. Sie würde ihre Chefin morgen um ein Gespräch bitten. Sie würde die Karten auf den Tisch legen.

Apropos Karten auf den Tisch legen. Marina wusste von all dem Geschehenen noch nichts. Lena wählte die Nummer ihrer Schwester. Als Marina abnahm, klang sie etwas verschnupft. «Hey Bella, bist du erkältet?» «Wenn man das so nennen will.» «Marina.» «Ja, Frau Oberlehrerin.» «Was ist los?», fragte Lena in versöhnlichem Ton. «Ich hab gerade ne Sinnkrise.» Da es bei dem einen Satz blieb, fragte Lena vorsichtig nach. «Im Studium?» «Nein, im Leben. Menschen studieren jahrelang die Entwicklungsgeschichte der Völker, aber ein Mann und eine Frau kriegen es nicht gebacken, über ihre gemeinsame Zukunft zu sprechen?» «Aha», dachte Lena, «daher weht der Wind.» «Carlo?» «Ja, Carlo. Wir haben uns sicher zweimal pro Woche getroffen, seit ich mit dir über ihn gequatscht habe. Es war schon fast so was wie Pärchenalltag. Wer früher zu Hause war, hat gekocht, man hat sich über die Herausforderungen des Alltags unterhalten.» «Zu Hause?», unterbrach Lena den Gedankenstrom ihrer Schwester. «Ja, zu Hause», reagierte Marina noch gereizter. «Welches Zuhause?» «Ja, bei mir natürlich.» «Natürlich?» «Lena, du machst mich irre mit deinen Gegenfragen. Sag doch einfach, was du sagen willst.» «Wie viel weisst du über ihn? Mal abgesehen von seinen Engagements als DJ?» Schweigen in der Leitung. Marina heulte auf. «Er müsste halt auch was erzählen.» «Jetzt beruhige dich erst einmal.» Lenas Ton war schlagartig weicher geworden. «Habt ihr euch denn gestritten?» «Nicht wirklich. Es war mehr gereizt.» «Dann könntest du dich ja auch einfach bei ihm melden und dich mit ihm verabreden.» «Aber ich will doch mehr als Spass am Samstagabend.» Lena seufzte leicht. «Ich versteh dich. Aber lass dir doch Zeit. Du kannst doch Männer nicht entweder als Studienobjekt oder als verwandte Seele sehen. Es gibt noch so ein paar Stufen dazwischen.» «Apropos verwandte Seele, hast du wieder mal was von Luis gehört?», versuchte Marina abzulenken. «Nein, hab ich nicht, du Schlitzohr. Und Luis ist für mich vieles, doch sehr, sehr wahrscheinlich keine verwandte Seele. Ausserdem könntest du es mit Carlo ja auch entspannter angehen und einfach geniessen.» Marina grummelte. «Ja, und weil du gerade dabei bist, so schön auf deine grosse Schwester zu hören. Wir gehen Samstagabend essen.» «Warum?» Marina war hellhörig geworden. «Das verrate ich noch nicht. Ich will nicht, dass kurz vor Schluss noch was schiefgeht. Also halte dir einfach den Abend frei, ja? Und jetzt würde ich sagen, leg dich in die Wanne, sieh dir was Schiesswütiges an und dann geh schlafen. Morgen rufst du Carlo an und ihr kocht schön zusammen. Alles andere kommt schon noch.» «Okay, ich reservier mir Samstag», Marina machte eine Pause, bevor sie weitersprach. «Und alles andere kommt schon noch.»