Hin- und Hergeschichten nannte sich ein Buch, das Franz Hohler und Jürg Schubiger gemeinsam verfasst haben. Der eine schickte dem anderen eine Geschichte und der Empfänger liess sich durch diese zu einem eigenen Werk inspirieren. Weil die beiden sich keine weiteren Vorgaben machten, sind herrlich verrückte Texte entstanden. Diesen inspirierenden Prozess wollen Regula Horlacher, eine befreundete Autorin, und ich ausprobieren. Ich mache den Anfang, sie antwortet. Wer dann übrigens Lust bekommt, mehr von Regula Horlacher zu lesen, besorgt sich einfach ihr Buch "Das schwarze Sofa" (nicht wundern, damals trug sie noch den Doppelnamen Haus-Horlacher) oder schauen sich http://www.literaturport.de/Regula.Horlacher/ an.


Sie putzte sich geräuschvoll die Nase, dann warf sie das Taschentuch in den Mülleimer neben dem Waschbecken. Sie liess kaltes Wasser über ihre Hände laufen, formte ein Gefäss aus ihnen und spritzte sich das Wasser ins Gesicht. Sie schaute in den Spiegel, beobachtete einen Moment, wie die Tropfen an ihren Wangen herunterrannen, dann rieb sie sich trocken, richtete ihre Haare, zog die Bluse zurecht. Sie musste zurück an die Kasse. Hoffentlich hatten ihre Kolleginnen die Themen Schwangerschaft und Kinder für heute abgehackt. Natürlich freute sie sich für Christine. Und sie wusste, wie stolz Mariella auf ihre Söhne war. Aber spätestens beim spitzengesäumten rosa Pijama für die künftige Prinzessin wurde ihr schlecht. Weil sie wusste, was kommen würde: "Und wann ist es bei Euch soweit?" Sie hasste diese Frage, denn die Realität interessierte niemanden. Wagte jemand, die Realität tatsächlich in den Raum zu stellen, wurde sie mit hohlen Phrasen eingehüllt, schöngeredet. Heute war sie mit dem Verweis auf verdorbenes Mittagessen vor der Frage geflüchtet. Doch sie musste zurück. Sie stieg in den Fahrstuhl. Ein Stockwerk, zwei Stockwerke, die Tür öffnete sich, sie lief auf ihr Kassenabteil zu und antwortete nur zu gern auf die Frage: "Sag mal, was kochst Du heute abend?"

„Das mag ich nicht!“ Tanja schaute sich verblüfft um. Niemand. „Was magst du nicht?“, fragte sie vorsichtig. „Das kannst du dir doch denken! Zucchetti mag ich nicht. Kinder mögen keine Zucchetti. Ist doch klar. Oder mochtest du etwa Zucchetti, als du klein warst??“ Da war kein Kind. Nur ihre Kollegin an der Nebenkasse, die den Einkauf eines Kunden über den Scanner zog. Seltsam. Tanja beschloss, die Sache von der lustigen Seite zu nehmen. „Was hättest du denn lieber?“, erkundigte sie sich leise vor sich hinlachend, während sie weiterhin Kleingeld in die Münzfächer ihrer Kassenschublade verteilte. „Toastbrot!“, antwortete die Stimme, „mit Butter und Konfitüre. Hast du einen Toaster?“ Unter den Fünfzigernoten begann sich etwas zu regen. Ein dunkelblonder Haarschopf kam zum Vorschein, dann ein winziges rundes Jungengesicht mit bräunlich-grünen Augen und einer laufenden Nase. Tanja riss eine Ecke vom Haushaltpapier ab, das sie normalerweise benutzte, um den Scanner zu reinigen, wenn ein Salat getropft hatte, und hielt ihm den Fetzen hin. „Hier – putz dir die Nase. Natürlich habe ich einen Toaster.“ Er war viel zu klein. Und sehr blass. Zweifellos brauchte er Vitamine. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Aber das hatte Zeit. „Ist Aprikosenkonfitüre in Ordnung?“, fragte sie. Er nickte. Mittlerweile sass er auf dem Rand der Schublade und hantierte ungeschickt mit dem Haushaltpapier. „Komm, ich helfe dir!“ Behutsam wischte ihm Tanja Oberlippe und Wangen sauber. „Wie heisst du?“ „Manuel. Ich heisse Manuel. Sag mal - glaubst du an Märchen?“ Seine Nase lief schon wieder. Hoffentlich wird er nicht krank, dachte Tanja besorgt. Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Ja“, antwortete sie nach einer Weile, „so muss es wohl sein."