Eigentlich wollte ich den Text folgendermassen beginnen: In der Schweiz sind xx Menschen ohne Obdach. Aber ich kann anstelle der xx keine Zahlen einsetzen. Es gibt keine nationale Erhebung. Die Tatsache schockt mich. Ich will mehr wissen und fahre nach Baden, wo im September vergangenen Jahres die einzige Notschlafstelle im Aargau geöffnet hat.

Susi Horvath leitet die Notschlafstelle im Haus Erhart. Die Zahlen hat sie perfekt im Griff. 12 Betten, 6 für die Notschlafstelle, 6 für die Notpension. Erstere bietet kurzfristige Übernachtungsmöglichkeiten und wird durch die römisch-katholische und die Reformierte Landeskirche im Aargau, den Ortskirchen von Baden, von Stiftungen, Spendern und aus dem Swisslosfonds des Kantons finanziert. Die Plätze der Pension bieten Menschen eine längerfristige Unterkunft und werden durch die IV oder die Sozialhilfe finanziert. 2019 waren es 440 Übernachtungen. «2020 sind es mehr als 1000 aufs erste Halbjahr.»

Soweit die Zahlen, aber wie wird man Leiterin einer Notschlafstelle? Susi Horvath antwortet strahlend: «Mit ganz viel Glück.» Die gelernte Hochbauzeichnerin hat mit 54 die Ausbildung zur Sozialpädagogin HF begonnen. «Doch Ausbildung und Arbeit waren einfach zu viel.» Abschluss hin oder her – sie habe sehr profitiert. «Ebenso von der Arbeit mit beeinträchtigten Menschen, die ich in einer Einrichtung betreuen durfte.» Empathie, Selbstreflektion, lösungsorientiertes Handeln – das könne man in der Notschlafstelle gebrauchen. Susi Horvath wird ernst: «Aber das Wichtigste ist mir die Offenheit für Begegnungen. Ein Mensch ohne festen Wohnsitz ist nicht weniger Wert als ein «gesellschaftlich integrierter». Ein Mensch ist ein Mensch.»

Wer ins Haus Erhart zum Schlafen kommt, erhält ein Bett in einem sorgfältig eingerichteten Zweibett-Zimmer. Die eigenen Sachen können in einem Spind eingeschlossen werden. In der Übernachtungsbox finden sich, neben der Bettwäsche, Zahnputzzeug, Shampoo und Duschgel. «Die persönliche Hygiene hat entgegen aller Vorurteile für die meisten einen hohen Stellenwert.» Im Keller stehen Waschmaschine und Trockner. Es gibt ein Abendessen vor Ort sowie einen Bon für das Frühstück und Mittagessen im Begegnungszentrum HOPE.

Ich frage Susi Horvath, was in einem Text über die Notschlafstelle unbedingt drinstehen muss? «Jeder kann obdachlos werden», antwortet sie. Oft seien psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme die Gründe. «Aber genauso können es Schicksalsschläge sein. Trennung, Tod, Verlust der Arbeit – jeder kann vom Leben überfordert werden.» Es gäbe und gibt noch viel zu schreiben. Susi Horvath und ich beschliessen, dass dies nicht der einzige Text über die Einrichtung sein muss. Mein Besuch im Haus Erhart beschäftigt mich. Ich finde es immer noch erschreckend, dass nur wenige wissen wollen, wie viele Menschen in der Schweiz ohne Obdach sind. Es hat etwas von Ignoranz. Dabei wäre der Anfang für jegliche Veränderung ganz einfach: Offenheit für Begegnungen.